Das Kind weint, denn es wollte der Straßenbahn zum Abschied winken. Es findet, sein faules Zimmer soll doch selbst aufräumen. Heftpflaster trägt es wie Trophäen. Es dichtet: Krokus, Pokus, Globus, Klokuss. Das Kind zieht keine Hausschuhe an, denn das Wort klingt schon so kratzig – wohl aber Pantoffel, weil die so schön waffeln.
David Wagner, Jahrgang 1971, lässt in seinem neuen Buch einen Ich-Erzähler sprechen, der Vater einer Tochter geworden ist und in dieser neuen Rolle immer wieder auch zurückdenkt an seine eigene Kindheit. Die Prosaskizzen tragen Titel wie „Ausziehspiele“, „Regenwürmer“ oder „Die Kleiderbügel“ und gehen von konkreten, alltäglichen Oberflächenphänomenen aus; oft folgt dann eine Reflexion über den Spracherwerb, über das magische Denken von Kindern oder über das Rollenverhalten als Vater beziehungsweise als Sohn.
Dass der Text zeitgebunden ist, zeigt sich an Kleinigkeiten: In den Jahren der Kindheit des Vaters wurden in den Schwimmbädern Badehauben getragen; auf dem Spielplatz seiner Tochter lautet eine mittlerweile übliche Frage, ob die Eltern noch zusammenleben. Bei allem, was in Wagners Buch individuell ist, die eigentümliche Familiensprache (Schnickerhöschen, Schweinebaumeln) oder die speziellen Interessen und Vorlieben der Tochter, das Buch hat einen hohen Wiedererkennungswert für jeden, der mit Kindern zu tun hat.
Lakonisch heißt es einmal, „das alles gab es schon oft“. Und doch bricht immer wieder große Verwunderung durch: „Denken, hier ist jetzt Wirklichkeit, eine, die lacht und weint und schreit … Wirklichkeit, die gefüttert werden will. Echtes Leben. Ich fahre es im Kinderwagen spazieren.“
Man macht es sich nicht immer klar, aber David Wagners Buch zeigt, dass Schreiben nicht nur aus dem Anhäufen von Sätzen, von Inhalten besteht, sondern auch aus dem Weglassen und Streichen. Wagner hat sich entschieden, nicht über den ständigen Alltagsstress zu schreiben, nicht über die „Affenangst“ von Eltern um ihr Kind, nicht über pädagogische Anstrengungen und auch nicht über die oft veränderten Beziehungen zur Frau, zu Freunden und Nachbarn.
Diese Auslassungen machen sein Buch luftig und angenehm diskret; Wagner vermeidet auch fast ganz den Plapperton vieler Autoren, die angesichts des Kindes lustvoll regredieren. Birgit Vanderbeke und Hanns-Josef Ortheil haben in den Romanen Gut genug beziehungsweise Lo und Lu Liebeserklärungen an Kinder geschrieben, die von einem permanenten Lächeln unterlegt waren; bei allem, was an den Büchern amüsant war, das unschuldig-naive Plaudern konnte einem auf den Geist gehen.
Elternrettung
Auch Wagners Buch entgeht der Gefahr einer künstlichen Naivität nicht ganz: Muss der Vater sich beim Einkauf von Hosen für die Tochter, made in Bangladesh, die Frage stellen, ob auch dort Eltern und Kinder samstags einkaufen gehen, oder ob sie vielmehr in einer Textilfabrik arbeiten? Weiß er nicht die Antwort, die sicherlich schichtenspezifisch ausfällt? Aber gut, über weite Strecken des Buchs versucht der Vater nicht, das Unschuldslamm zu spielen.
Der Junggeselle Kafka hat in einem Brief an seine Schwester einmal geschrieben: Kinder seien zur Rettung der Eltern da. Er berichtete ihr von Swifts Liliputanern, die wussten, Eltern seien nicht geeignet, die eigenen Kinder zu erziehen, weil sie unweigerlich die Kinder mit sich selbst verwechselten. Bei Wagner erinnert sich der Vater, wie seine eigene Mutter meinte, ihn besser zu kennen als er sich selbst; die Mutter habe nie verstanden, dass sie nicht in ihm war, dass sie nicht alles von ihrem Sohn wusste.
Das heißt: In der Vergegenwärtigung der eigenen Kindheit kann der Erwachsene Verwechslungen zwar durchschauen und von sich weisen – nur, das Muster der „Elternrettung“ wird weitergegeben. Wagner schreibt, die Tochter lehre Gelassenheit, spende Trost, sei ehrlich; vielleicht sei sie es, die den Vater an der Hand führe und nicht umgekehrt. Dem „Weitergeben“ ist also nicht zu entkommen, und im Unterschied zu Kafka, der seiner Schwester einen tendenziell ohnmächtig-illusionslosen Brief schrieb, geht von Wagners Text ein großes Einverständnis mit dem Phänomen des Weitergebens aus.
Es liege ein „Trost in der Wiederholung der immergleichen Geschichte“, heißt es einmal. Die eigene Geschichte als Sohn der Eltern sei nicht mehr so wichtig; auf lange Sicht gewinne er selbst, notfalls könne er den eigenen Vater „Opa“ nennen – und er wisse, er bekomme es schließlich von der Tochter zurück, die schon übe: „Papa ist blöd, Mama ist Scheiße.“
Eine große Ruhe, ja Beschaulichkeit, liegt über dem Text von Wagner. Gefasste, abgeklärte Sätze wie „keine Familie ist eine Idylle“ können irritieren – und doch liegt mit Spricht das Kind ein Buch vor, das eben bei Weitem mehr Gedanken und Fragen auslöst als etwa Ortheil oder Vanderbeke.
Und selbst wenn man auch nicht mit jeder Reflexion des Vaters einverstanden ist, entwaffnet einen das Tun der Tochter: Es darf in diesem Text schön sein. Ordnung im Kühlschrank stellt das Kind her, indem es die Tomaten als rote Punkte verteilt. Ein stilles, bedachtsames Buch, das sich Zeit für das Kleine nimmt.
Der Ausdruck „Idylle“ wird beinahe nur noch pejorativ verwendet – als auf- oder eben als abgeklärter Zeitgenosse darf man sich ja keine Blöße geben. Idylle löst vielleicht gerade deshalb so viel Spott aus, weil sie Sehnsucht weckt. Wenn man bei David Wagner von Ausziehspielen liest, von der „Plumeaubildhauerin“, vom Vorlesen und vom Nachmachen, dann begreift man schon, warum eine weitgehend heile Welt doch schließlich auch einmal beschrieben sein will.
Spricht das KindDavid Wagner. Droschl, Wien 2009, 144 S., 18
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