Treue bis zum letzten Schuss

Recherche Die Geschwister Susanne und Jan Peter Wiborg versuchen, den nationalsozialistischen Eifer ihrer Tante „Clara S.“ zu verstehen
Ausgabe 10/2015
Der "Bund Deutscher Mädel" zelebrierte den Hitler-Kult
Der "Bund Deutscher Mädel" zelebrierte den Hitler-Kult

Foto: Arkivi/imago

In einer postheroischen Gesellschaft wirkt es fremd, wenn junge Männer, seltener junge Frauen, als Kämpfer in heilige Kriege ziehen. Clara S., geboren 1920 in Pommern, fiel nicht aus dem Rahmen. Sie hat ihre Rolle mustergültig erfüllt, eher übererfüllt. 1932, mit zwölf Jahren, trat sie in den Bund Deutscher Mädel ein. 1945 starb eine überzeugte Nationalsozialistin.

Die Geschwister Susanne und Jan Peter Wiborg, beide Historiker, wussten, dass ihre Tante Clara seit Kriegsende vermisst und gerüchteweise von der Roten Armee ermordet wurde. Sie begaben sich auf Spurensuche. Die Recherchen liegen jetzt als eingängiges, chronologisch angelegtes Buch vor. Es macht die Geschichte der Clara S. über weite Strecken plausibel. Claras Eltern waren pommersche Kleinbürger, patriotisch und protestantisch. Clara war ehrgeizig und begabt; sie wollte mehr als ein typisches Frauenleben zwischen Kindern und Küche. 1939 nannte sie ihr „Glücksjahr“, sie wurde hauptamtliche Führerin beim BDM. Und diese Karriere verhinderte offenbar, dass sie das reaktionäre NS-Frauenbild durchschaute. Clara verliebte sich in den verheirateten Karl. Eine Phase bedrückender Heimlichkeiten, aber sie war auch dauernd unterwegs im Dienst der „großen Sache“. 1943/44: Karl entschied sich für die Ehefrau; Claras Karriere stockte; der bewunderte Bruder fiel für „Vaterland und Führer“.

Zeit, zur Besinnung zu kommen? Clara hob keine Panzergräben aus wie ihre Schwester. Der Geliebte tauchte wieder auf, und während Ströme von Flüchtlingen zu Fuß Richtung Westen zogen, kutschierten die beiden mit anderen Naziführern im Auto herum. Von sich und ihresgleichen schrieb sie aus Stettin: „Höher kann kein Mensch leben als wir. Und dankbar bin ich dem Geschick, das auch uns – Frauen – dieses Dasein erlaubt.“ Zuletzt war sie eingesetzt bei einem Bataillon halber Kinder, die nicht etwa den Rückzug der Zivilbevölkerung, sondern den von führenden Nazis decken sollten. Ihre Briefe berichten euphorisch-hysterisch von „tollem Trubel“, von „stilvollen Gelagen“ und „gesteigertem Dasein“.

Im April 45 waren sie, Karl, der SS-Mann Simon und dessen Freundin in einem Waldversteck auf Rügen; sie wollten als Werwölfe weiterkämpfen. Bevor die Rote Armee die Insel erreichte, kam es zu einer Auseinandersetzung. Schüsse fielen. Simon floh und brachte sich in britischer Gefangenschaft um. Auf Rügen wurde gemunkelt, man habe Leichen im Wald gesehen, junge Frauen darunter. Sie wurden später nie gefunden.

Die Autoren schildern ihre mühsame Spurensuche; dabei laufen einige Passagen Gefahr, zur kolportageartigen Detektivgeschichte zu werden. Andererseits erhellen sie, wie schwierig Nachforschungen bei den wenigen noch lebenden Zeitzeugen bis heute sind. Sinngemäß heißt es einmal, die „Schonzeit“ sei doch mittlerweile vorbei – aber immer noch kann oder will sich nicht jeder alte Nazi erinnern. Diese Tatsache ist nicht neu.

Produktiv verstörend

Auch vieles aus dem Lebenslauf von Clara S. ist typisch. Die untergeordnete Stellung von Frauen im System der Nazis bedeutete nicht, dass sie unweigerlich „Opfer“ waren; sie waren auch Täter- und Mittäterinnen. Ausdrücklich sagen die Wiborgs: Clara S. profitierte lange Zeit vom Faschismus. Später heißt es, nicht alles, was man zu akzeptieren habe, könne man verstehen.

Produktiv verstörend wird es immer da, wo sich konkret die Frage stellt, ob und welche Denk- und Handlungsspielräume die Tante gehabt hätte. Unvermeidlich bleiben Fragen offen. Warum war sie so anfällig für Götterdämmerungsszenarien, für Heldenschwulst? Andere langweilten sich bei Nazireden, Clara S. glaubte. Sie lebte offenbar auf einer Insel, nur von Gleichgesinnten umgeben. Bei der Lektüre kommen einem häufig Kategorien wie „Freiheit“ und „Zwangsläufigkeit“ in den Sinn. War dieses Leben zwangsläufig und Clara S. nichts als ein Produkt der Gesellschaft? Wo wäre sie frei gewesen, anders zu entscheiden? Die Wiborgs schlagen keinen Bogen zum Jetzt und Heute, aber eine gute historische Darstellung gibt immer die Möglichkeit, über die jeweilige Zeit hinauszudenken. So ist es hier.

Sabine Peters ist freie Schriftstellerin, zuletzt erschien ihr Roman Narrengarten

Info

Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S. Susanne Wiborg, Jan Peter Wiborg Kunstmann 2015, 320 S., 19,95 €

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