Wenn es im eigenen Land nur Armut, Arbeitslosigkeit oder gar Hungersnöte gibt, wandern die Leute fort - so etwa die Iren Mitte des 19. Jahrhunderts. Irland selbst ist durch seinen wirtschaftlichen Aufschwung heute einer der Staaten, der osteuropäische Arbeitskräfte anzieht - in Lettland etwa findet ein regelrechter Exodus der Bevölkerung statt.
Die lettische Journalistin und Autorin Laima Muktupavela, Jahrgang 1962, hat selbst einige Zeit als Pilzpflückerin auf der grünen Insel gearbeitet, um zu recherchieren, wie es ihren Landsleuten dort ergeht. Daraus ist ein dickleibiger, flott erzählter Roman entstanden, der sich entschlossen von zahlreichen Berichten über das Elend legaler und illegaler Wanderarbeiter abhebt - ihr Buch will unterhalten und amüsieren.
Also los: Die Heldin Iva verlässt Riga, um in einer abgelegenen irischen Gegend als mushroom-picker zu jobben. Der Schlamassel beginnt, nicht ganz originell, schon am Flughafen mit einem tickenden Wecker im Gepäck. Die Unterbringung am Arbeitsplatz ist entwürdigend, und die Hackordnung unter Ivas Landsleuten schließt die Benutzung der Frauen durch die Männer ein. Lauter Einzelkämpfer werden vom Chef um ihren Lohn betrogen, sehen außer der schäbigen Unterkunft und dem Hangar nichts - aber Iva, dies übergewichtige Vollblutweib, bewahrt gute Laune oder tröstet sich mit Lebensweisheiten, die jedem Lore-Roman entnommen sein könnten: "Das Rad des Lebens dreht sich."
Mit der Kollegin Rute entflieht sie nach einiger Zeit ihrem Sklavenhalter und findet eine zweite, um ein paar Grade bessere Stelle auf einer weiteren Pilzfarm. Sie schließt Freundschaft mit der freigeistigen lettischen Kollegin Gabriela, die in Irland nicht arbeitet, um Geld zu verdienen, sondern um als freier Mensch die Welt zu entdecken: Alles Geschehene möge man als Erfahrung, nicht als Katastrophe begreifen. Weil der Job allzu eintönig ist, findet eines Tages eine rauschende Party unter diversen Osteuropäern statt, was die Gelegenheit bietet, Stammtischweisheiten zu äußern: In Lettland kämen auf zehn Frauen acht Männer, von diesen seien vier verheiratet, zwei ständig blau, der Rest schwul. Mit den Bulgaren und Tschechen sei endlich Frischfleisch in Irland eingetroffen; die Namen der Männer interessierten nicht, frau brauche von ihren Körpern ohnehin nur siebzehn Zentimeter.
Damit findet so ziemlich genau die Umkehrung der Situation im Vergleich mit dem ersten Arbeitsplatz statt: Dort kochten die Frauen für die Männer, um nicht, wie es heißt, noch andere "Dienstleistungen" für sie erbringen zu müssen; aber natürlich wurde eine von ihnen geschwängert. Seinerzeit rief Iva tonlos der Kollegin zu: "Du musst dich nicht schuldig fühlen, daß es hier so abläuft ... mach ES so, wie du Pilze pflückst ... Das bist nicht du, Liebes ..." Bei der Lektüre solcher inhaltlich wie sprachlich verkommener Sätze dreht sich einem der Magen um. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, von jeder missbrauchten Frau, von jedem der über den Globus gescheuchten Wanderarbeiter ein emanzipatorisches Bewusstsein zu erwarten. Aber muss die Gewaltförmigkeit der Arbeits- und Geschlechterverhältnisse deshalb rosa gepinselt werden?
Man kann beliebige Beispiele anführen: Iva malt sich das anstrengende Säckeschleppen schön, es sei so etwas wie der Muskelaufbau in einem Fitness-Studio. Weiter: Als der Gruppe der Lohn vorenthalten wird, weigert sie sich, mit den Kollegen gestohlenes Essen zu teilen und fastet. "Hurra. Ich nehme ab". Weiter. Iva weiß, dass sie und ihresgleichen als "Hände ohne Gehirn" angestellt werden. Sie weiß, dass der einzige Maßstab ihrer Arbeitgeber der Profit ist, aber was schert es sie: "Man muß das Bild seines Lebens selbst malen." So genießen sie und Gabriela nach der Arbeit entspannende Duftlämpchen und trällern frohgemut vor sich hin. Sie loben die Frauenrechte innerhalb der katholischen Kirche, weil sie in Irland Ministrantinnen gesehen haben, und hoffen auf mehr Kirchgänger in Lettland.
Einstweilen aber leben sie erfüllt im Hier und Jetzt. Sorge um die Rente und um anständigen Lohn ist überflüssig, weil es "im Leben" keine Sicherheit gibt, auch keine Angehörigen, die zu versorgen wären. Traditionen sind ein Klotz am Bein, Mobilität ist wunderbar, der Verzicht auf Vertrautes tut gut, "der Weg ist das Ziel". Was in einer knappen Zusammenfassung vielleicht satirisch wirken könnte, wird im Roman selbst bis zur Ermüdung breitgewalzt. Und der gleichbleibend muntere Tonfall, immer nah am Kichern, trägt nicht dazu bei, dass man mit den Figuren warm wird. Wenn Iva, zurück in Riga, ihr gesamtes schwerverdientes Geld leichtherzig verschenkt, dann könnte man gleich Band zwei, drei und folgende vorschlagen: "Iva auf neuen Wegen." "Ivas Abenteuer in der indischen Fabrik."
Das Champignonvermächtnis ist in Lettland auf begeisterte Reaktionen gestoßen - soll man das Buch also doch anders lesen, vielleicht als modernen Schelmenroman? Der klassische Schelmenroman enthielt immer auch den Ausdruck sozialen Protests, und den sucht man in diesem Werk vergeblich. Die bloße Aneinanderreihung neoliberaler Glaubenssätze und Durchhalteparolen wird nirgends gebrochen; sie ist keine Satire, keine Demonstration einer verkehrten Welt - sie bildet rein affirmativ den Zeitgeist eines entfesselten Kapitalismus ab. Iva gehört zwar objektiv zu dessen Verlierern, aber das hier gezeichnete Subjekt glaubt fest daran, sich individuell durchboxen zu können.
Ein tragisches Buch? Ach was. Damit Leser und Leserin nicht auf trübe Gedanken kommen, findet sich am Ende jedes Kapitels ein launig formuliertes Pilzrezept - und die Hauptfigur selbst kommentiert ihre Erlebnisse in lustvoller Infantilsprache: "Hihi!", "Brr!", "Mäh!", "Hurra!", "Trallala!". So ist es recht. Die Pilz- und andern Chefs der Welt können der Heldin herzhaft hinterher rufen, "Weiter so, Iva!"
Laima Muktupavela Das Champignonvermächtnis. Roman. Aus dem Lettischen von Berthold Forssman. Weidle, Bonn 2008, 380 S., 23 EUR
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