Was hat der Vorwurf des Drogenmissbrauchs gegenüber Michel Friedman mit Antisemitismus zu tun? Nichts! So einfach die Antwort auf diese Frage auch ist, so unaussprechbar wird sie angesichts der derzeit geführten Diskussion in Presse und Internet. Der Generalverdacht des Antisemitismus hat sich schon häufig über einen Sachverhalt gelegt, wenn die beteiligten Personen Juden sind. Dabei ist diese Tatsache für den besagten Sachverhalt völlig irrelevant. Die Frage, die gestellt werden muss, ist darum eine viel schwieriger zu beantwortende. Warum ist es trotz Historikerstreit, Goldhagen-Debatte und immer wieder auftretenden Skandalen um die Thematik des Antisemitismus immer noch nicht möglich, differenziert darüber zu reden und vor allem, genau zu definieren, was denn Antisemitismus ist und was nicht? Wäre letzteres klar, wäre eine Diskussion wie die derzeitige nicht möglich.
Zunächst ist Friedman ein strafrechtlich Verfolgter wie viele andere auch und ein Opfer hiesiger Medienkultur wie viele andere auch. Vermutungen mutieren durch intensives Berichten schnell zu vermeintlichen Wahrheiten, die anstelle von fundierter Recherche das wissensdurstige Publikum schon erreicht und beeinflusst haben, bevor Tatsachen und Zusammenhänge überhaupt geliefert werden können. Prominenz macht das Über-jemanden-Herfallen noch attraktiver und sichert zusätzlichen Absatz der Informationsware. Wenn auch insgesamt mehr Sensibilität der medialen wie der politischen Kultur gut täte, so bleibt doch hier die banale Feststellung, dass dem Fall Friedman nichts Besonderes anhaftet.
Nun können wir aber lesen, dass dieser Fall durchaus etwas Besonderes sei, weil hiermit das "deutsch-jüdische" Verhältnis getestet würde. Sollten wir also Friedman anders behandeln als alle anderen, weil er ein Jude ist? Also kein normaler Deutscher? Hier sind wir an unserem historischen "wunden Punkt" angelangt. Die Angst davor, etwas gegen "Juden" zu sagen, verstellt den Blick auf das eigentliche Thema. Eigentlich darf ich jede Person, jeden Staat, jedes politische System, jede konkrete Politik auf der Welt kritisieren - egal von wem sie gemacht wird. Die Religionszugehörigkeit, ethnische Herkunft der Beteiligten ist dafür völlig irrelevant. Am Beispiel Israels lässt sich dies anschaulich demonstrieren: Die Thematisierung Israels im Zusammenhang mit dem Völkerrecht hat a priori nichts mit Antisemitismus zu tun und auch nichts damit, dem Staat sein Existenzrecht abzusprechen. Einer solchen Prüfung muss sich jeder Staat unterziehen. Auch wenn Israel sich selbst als jüdischer Staat definiert, so kann man doch an der Politik nichts "Jüdisches" ausmachen, dann müsste sie sich ja von der anderer Staaten unterscheiden - wenn man überhaupt von einem spezifischen Merkmal "jüdisch" ausgeht - und das tut sie bekanntlich nicht.
Andererseits muss durchaus das "Symbol Israel" von nichtjüdischer Seite anerkannt werden, denn Israel verkörpert die Hoffnung, dass ein Verbrechen wie der Holocaust nie wieder geschieht. Natürlich wird es etliche Menschen geben, die Israel kritisieren und tatsächlich "die Juden" meinen - es wird schwierig sein, dies herauszufiltern. Und das ist die wichtige Aufgabe! Die in Deutschland vorherrschende Angst, nicht wieder antijüdische Stereotype zuzulassen, hat ihre Begründung und Berechtigung. Man darf nicht die falschen Leute bedienen und muss sehr aufpassen, wer richtige Argumente für falsche Zwecke umzudeuten versucht. Aber die Debatte trägt mitunter hypochondrische Züge, und Hypochondrie führt bisweilen zu verstärkter Krankheitsanfälligkeit und verhindert die notwendige Auseinandersetzung mit dem eigentlich Anstehenden. Allerhöchste Zeit, Tabus zu verbalisieren und ihnen damit ihre Fähigkeit zu neuer Mythenbildung zu nehmen. Es darf nicht Schluss sein mit der Aufarbeitung unserer Geschichte. Aufarbeitung bedeutet aber nicht nur Erinnerung an den Holocaust, sondern Erkennen der Entwicklungslinien dorthin. Nur so kann man dem hinter vorgehaltener Hand weiter gedeihenden Antisemitismus sowie anderen Rassismen Einhalt gebieten. Nur Auseinandersetzung kann hier weiteren Schaden abwenden!
Schaden richtet hingegen die Übergeneralisierung des Antisemitismusvorwurfs an, seine inflationäre Anwendung. Sie führt leicht zu einer gefühlsmäßigen Gegenbewegung. Oft wird nicht erkannt, dass dieser schnelle Vorwurf aus einer Angst heraus resultiert. Empfunden wird vor allem die Macht, die hinter dem Etikett "Antisemit" steht, und die Macht der Unterstellung. Sie provozieren Gefühle, die das Verständnis nicht weiter fördern und schaffen eine Konfrontationsstimmung - auf allen Seiten. Nur wenn dieses Faktum anerkannt wird, ist ein Wieder-aufeinander-Zugehen möglich. Machen wir also einen solchen Versuch. Über eine genaue Bestimmung des Begriffs Antisemitismus müsste es möglich sein, den historischen Ballast zu durchdringen und Sachlichkeit in eine emotional geführte Debatte - die wir darum immer wieder führen - zu bringen. Woran kann man Antisemitismus erkennen?
Ergebnisse aus der Rassismusforschung, der Sprachhandlungstheorie und der Sozialforschung können hier brauchbare Anhaltspunkte liefern, um den nicht zu leugnenden Antisemitismus zu bestimmen und nicht überzustrapazieren, wie es leicht passiert, wenn ein Konzept diffus ist. Vorab sei geklärt, dass es keine Menschenrassen gibt und somit auch keine Semiten, sondern nur semitische Sprachen. Der Begriff Rassismus dient also der Beschreibung einer Geisteshaltung anderen Menschen gegenüber, die ich gelernt habe, als "andere" wahrzunehmen und in Gruppen einzuteilen. Mit dieser Wahrnehmung als etwas anderes beginnt tatsächlich bereits der Rassismus - nicht erst mit der Negativbewertung der "anderen Gruppe" oder gar konkreten physischen Handlungen.
Zunächst wird die Kategorie gebildet: Schwarze, Frauen, Juden, Ausländer, Muslime, Nachbarn und so weiter. Das Spektrum ist beliebig. Nun werden Sie einwenden: aber die gibt es doch! Freilich gibt es viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Eigenschaften. Aber man muss feststellen, dass auf bestimmte Unterschiede unverhältnismäßig mehr Aufmerksamkeit gelenkt wird, als es den Sachverhalten entspricht, um die es eigentlich gehen soll. So geht es quer durch die Berichterstattung: wir können lesen von Polen, die Autos stehlen, von Schwarzen, die Frauen nachstellen, von Türken, die herumschlägern, von Muslimen die Attentate verüben, von Juden, die in den Medien Einfluss nehmen. Das sind alles Fakten. Alles Einzelfälle, die das Merkmal der Gruppenzugehörigkeit fokussieren, obwohl dieses für die jeweilige Handlung völlig irrelevant ist. Umgekehrt könnten wir uns angewöhnen, etwa die Schuhgröße von Attentätern mitzumelden - die ist ebenso real. Man kann beweisen, dass ab Schuhgröße 39 eine erhöhte Kriminalitätsgefahr besteht! Unsere Aufgabe der Zukunft wird es sein, zu unterscheiden, in welchen Kontexten die genannten Merkmale relevant sind und wann nicht - auch wenn hier alte Gewohnheiten bestehen. Denn die suggerierten Rückschlüsse sind fatal. Kausale Zusammenhänge werden wahrgenommen zwischen Kriminalität und Nationalität, politischem Einfluss und Religionszugehörigkeit, obwohl die Statistiken anderes belegen und genügend Gegenbeispiele existieren.
Soll auf Friedmann besonders geachtet werden, weil er ein Jude ist? Natürlich nicht. Dennoch entsteht genau dieser Eindruck und das kann der angestrebten Normalität nicht zugute kommen. Da Rassismus mit der irrelevanten Nennung von Merkmalen der Gruppenzugehörigkeit beginnt, ist diese Markierung zu meiden, wenn es um Delikte geht, die damit in keinem kausalen Zusammenhang stehen können. So ist der Hinweis auf Friedmans Mitgliedschaft im Zentralrat der Juden genau dann zu kritisieren, wenn man seine vielen anderen Ämter nicht mit erwähnt, denn dann wird durch das Herausheben dieses Faktums eine Kausalität zwischen Judesein und dem Charakter Friedmanns suggeriert. Für den Grund der aktuellen Untersuchungen sind diese Fakten genauso irrelevant wie seine Schuhgröße. Auch die philosemitischen Äußerungen im Zusammenhang mit diesem Fall erhalten die Markierung aufrecht und bedienen somit die andere Seite der gleichen rassistischen Medaille.
Die Wiederholung des immergleichen Musters in diesen Debatten zeigt, wie nötig es ist, mit einer offenen Diskussion zu beginnen. Walser hat die Reduktion der Debatte auf Auschwitz als ungute Verkürzung kritisiert. Möllemann hat angesichts palästinensischen Terrors signalisiert, dass auch er für sein Land kämpfen würde, wenn es besetzt wäre. Erinnern Sie sich noch an die genauen Anfänge dieser prototypischen Skandale? Jeweils mit diesen Äußerungen begannen Kampagnen, die ein Eigenleben entwickelten und die heute weit verbreitet als "Bedienung des antisemitischen Ressentiments" gelten. Denn Traditionen in der mediengeprägten Öffentlichkeit verstellen uns schnell den Blick auf die tatsächlichen Abläufe. Unsere unaufgearbeiteten Emotionen spielen uns darüber hinaus immer wieder den gleichen Streich, womit wir der Thematik nicht gerecht werden.
Im Fall Friedman wird inzwischen zurecht festgestellt, dass die mediale Vorverurteilung öffentlicher Personen eine Unkultur darstellt. Die Forderung nach mehr Zurückhaltung und Sensibilität ist darum berechtigt. In Analogie dazu ist dringend zu fordern, dass in Bezug auf alle Vorwürfe diese Vorsicht an den Tag zu legen ist. Auch bezüglich der Fragestellung, ob eine Aussage antisemitisch ist oder nicht, wäre für die Zukunft die gleiche Sorgfalt wie die hier eingeforderte angebracht: Nachfrage und sachliche Klärung anstelle von schnellem, fehlerhaftem Vor-Urteil mit seinen kontraproduktiven Folgen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.