Sie begegnet einem immer wieder, die innerlinke Debatte über Klasse, Rassismus und Patriarchat – verbunden mit dem merkwürdigen Wunsch, in der Bekämpfung dieser Herrschaftsformen eine Hierarchie aufzumachen. Der Gewerkschafter und Linke Ralf Krämer äußerte sich jüngst an dieser Stelle dazu. Alle andere Formen sozialer Ungleichheit als die der Klassenungleichheit nennt er „Identitätspolitik“ und schreibt seinen Text selbst aus Perspektive seiner eigenen Identität heraus: „Aufgewachsen in den 1960er und 1970er Jahren in einer Familie und in einem sozialen Umfeld der Arbeiterklasse im Ruhrgebiet.“ Ralf Krämer hat nun den Eindruck, in der Linken spielten in den letzten Jahren Diskussionen um Rassismus, Gender, sexuelle Orientierung und andere „identitätspolitische“ Fragen eine zunehmende Rolle – mehr noch: „Teilweise erscheinen sie als Hauptanliegen linker Politik und drohen deren traditionelle zentrale Ausrichtung auf soziale Gerechtigkeit in den Hintergrund zu drängen.“
Als feministische Gewerkschafterin möchte ich zu diesem Eindruck etwas sagen, denn Ralf Krämers Argumentation steht stellvertretend für viele Linke – an denen, so mein Eindruck, einige linke Diskurse dieser Jahrzehnte vorbeigegangen zu sein scheinen.
Vor einem halben Jahrhundert, so behauptet Krämer, seien die Verhältnisse noch weniger von Migration geprägt gewesen. War es nicht vielmehr so, dass vor knapp 50 Jahren eine Generation von Gastarbeiterkindern im Zuge des Familiennachzugs nach Deutschland kam, der eine völlig verfehlte Politik die Integration verweigerte? Ralf Krämer wie auch ich wurden in ein Deutschland geboren, das die Vernichtungspolitik der Nazis „ausländerfrei“ gemacht hatte. Deswegen wurden die Kinder von Ausländern an deutschen Schulen lange Zeit als ein von der Norm abweichendes Phänomen wahrgenommen. Ein fataler Irrtum, der erst lange Zeit später von links aufgearbeitet wurde.
Die Kluft ist tief ins Empfinden eingegraben
Wer die Illusion hatte, dass auf der linken Tagesordnung stehe, den unfruchtbaren Konflikt zwischen Klassenkampf und Identitätspolitik endlich zu überwinden, für den ist Krämers Text eine eindrückliche Studie, wie tief sich diese Kluft ins Empfinden eingraben kann. Krämer verortet sich auf der Seite des Klassenkampfes. Wer aber auf der anderen Seite von Ralf Krämers Graben steht, wird nie so richtig klar. Er konstruiert eine Allianz zwischen „jüngeren linken Milieus“, sich „progressiv fühlender Kreise“ und dem Bildungsbürgertum, der er unisono unterstellt, arrogant auf die sozial Schwachen hinabzublicken.
Dabei verheddert er sich aber immer wieder in Widersprüche. So stellt Krämer zu Recht fest, dass „überwiegend ärmere Migranten oder Frauen oder Behinderte aus der arbeitenden Klasse“ unter sexualisierter Gewalt und alltäglichem Rassismus leiden. Statt zu loben, dass die „jüngeren linken Milieus“ mehr Frauenhäuser sowie weitere Umsetzungen der Istanbulkonvention zum Schutz vor häuslicher Gewalt fordern und deutlich mit dem Finger auf Ungerechtigkeiten wie „racial profiling“ zeigen, kritisiert er sie für das angebliche Privileg, sich „lautstärker und wirksamer“ gegen Sexismus wehren zu können.
Demgegenüber fordert er eine grundlegende Parteilichkeit gegenüber benachteiligten Menschen, auch wenn sie „übles Zeug erzählen“: „Für die meisten ist es ein viel größeres Problem, wenn sie keine vernünftige Arbeit finden oder keinen Kitaplatz, Beruf und Kindererziehung nicht vereinbaren können, ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können, als wenn irgendein Macho einen anzüglichen Spruch ablässt oder jemand eine abfällige rassistische Bemerkung.“
An dieser Stelle will ich eine Geschichte aus meiner Betriebsratspraxis erzählen: Vor etwa 15 Jahren passte mich eine junge Kollegin am Rande einer Betriebsversammlung ab. Sie sei lesbisch, sagte sie. Von mir als Betriebsratsvorsitzender wollte sie einen Rat, ob sie im Betrieb offen damit umgehen könne. Ich muss gestehen, dass ich sie nicht darin bestärkte. Wir arbeiten bei einem Träger von sozialen und Bildungsmaßnahmen. In unseren Bildungsmaßnahmen stoßen wir ständig auf homophobe Vorurteile. Die Kollegin machte einen verunsicherten schüchternen Eindruck. Ich hatte berechtigte Zweifel, ob die Vorgesetzten und Kollegen einer lesbischen Sozialarbeiterin ausreichend den Rücken stärken würden und ob sie eine Auseinandersetzungen um ihre Person durchstehen könnte. Die Kollegin war in einem gerade outgesourcten Unternehmensteil ohne Tarifbindung tätig mit einem Bruttogehalt von knapp 2000 Euro und einem befristeten Arbeitsvertrag. Wer weiß schon, was ihr mehr schlaflose Nächte bereitete: das miese Gehalt, der unsichere Arbeitsvertrag oder die Sorge um die Akzeptanz ihrer sexuellen Orientierung. Vermutlich hat ihr alles zusammen das Leben schwer gemacht. Eine Gewichtung macht einfach keinen Sinn.
Es gibt viele Ansätze, Feminismus und Klassenpolitik fruchtbar zusammenzubringen
Unbeabsichtigt verfestigt Krämer das Vorurteil, Sexismus und Rassismus seien eher das Problem der Armen und Abgehängten. Dies ist längst empirisch widerlegt. Wir wissen, dass es beides in allen Gesellschaftsschichten gibt, auch wenn es – da muss ich Krämer Recht geben – im Bürgertum elaborierter formuliert wird.
Anfang des Jahrhunderts wurde ich in den Gesamtbetriebsrat gewählt. Bei der Wahl der Ausschussmitglieder sortierten die überwiegend männlichen Kollegen eine der wenigen weiblichen Bewerberinnen mit der Begründung aus, dass sie kurz vor der Entbindung stünde und dann stillen wolle, so dass ihr die oft weiten Anreisen zu den Gesamtbetriebsratssitzungen nicht zuzumuten seien. Meine empört vorgetragene Forderung, den Sitzungsort in Wohnortnähe der Kollegin zu legen, um ihr die Teilnahme zu ermöglichen, wurde als so unangemessen empfunden, dass ich die nächsten Jahre mit Missachtung bestraft wurde. Es dauert lange, bis ich mich wieder traute, feministische Standpunkte zu formulieren, obwohl oder gerade weil Frauen in vielen Betriebsratsgremien so offensichtlich übergangen wurden.
Krämer treibt die Frage um, dass die Linke heute weniger denn je Zugang zu den Menschen am unteren Ende der Reichtumsskala hat. Darüber zerbrechen sich auch andere den Kopf. Es gibt viele Versuche, Strategien zu entwickeln, die die unterschiedlichen und widersprüchlichen Bedingungen der Lohnabhängigen zu einer verbindenden Klassenpolitik zusammen führen, ohne das in den Kämpfen um Identität Erreichte preiszugeben. Die „Verbindende Klassenpolitik“ des noch-Linke-Vorsitzenden Bernd Riexinger, der „Feminismus für die 99%“ amerikanischer Feministinnen, die feministische Forderung nach Umverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit, die Vier-in einem-Perspektive von Frigga Haug, die Debatte um Infrastruktursozialismus mit einem gebührenfreiem, für alle gleichberechtigtem Zugang zu einem ausgebauten Gemeinwesen – es gibt viele Ansätze, Feminismus und Klassenpolitik fruchtbar zusammenzubringen. Fruchtbar im Sinne von: realen Verbesserungen für die Frauen. Und Prekäre. Und prekarisierte Frauen.
Schade, dass Krämer sich an diesen Versuchen nicht beteiligt, sondern an alten Gräben weiterbuddelt. So bleibt der Frust eines „etwas älteren, weißen, deutschen Mannes“ (so Krämers Selbstbeschreibung), der das, was ihn einst privilegierte, in Frage gestellt sieht.
Sabine Skubsch lebt in Karlsruhe. Sie ist aktives ver.di- und GEW-Mitglied und seit 20 Jahren freigestellte Betriebsrätin bei einem sozialen Träger. Sie gehört dem Landesvorstand der LINKEN in Baden Württemberg an und ist ehrenamtlich in der Frauenredaktion von Das Argument und in der Redaktion der Zeitschrift LuXemburg tätig
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