Günter Grass, viel geliebter und verspotteter Vertreter der aussterbenden Gattung "Engagierter Intellektueller", hatte im September 2003 zu einem musikalischen Abend im Berliner Ensemble geladen. Die ausgewählten romantischen Lieder aus dem Sammelband Des Knaben Wunderhorn, die er dort und anschließend auch auf einer Tournee vortrug, sind inzwischen auch auf CD zu hören. Romantische Lieder, vorgetragen von Grass himself im Wechsel mit der Schauspielerin Helene Grass - seine Tochter - und von Stephan Meier auf ungewöhnlichen Instrumenten begleitet.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Stephan Meier ist die größte Entdeckung dieses Abends. Wie fein und originell er Stimmungen trifft, ohne die Vergangenheit zu beschwören oder irgendeine peinliche Aktualität herzustellen, ist ein Genuss. Erstaunlich und fremdartig wirken dagegen viele Liedtexte. So eröffnen die beiden Grass´ den Abend: "Lieber Schatz, wohl nimmerdar, will ich von dir scheiden, kannst du mir aus deinem Haar spinnen klare Seiden." Ein Liebeslied, das sich von einer leichten Verspieltheit zum Absurden steigert: "Soll ich meine Mutter geben/ als Jungfrau dir zum Weibe/ Lieber will ich dir ein Kindlein geben/ und keine Jungfrau bleiben". Das Publikum, das ist auf der CD zu hören, lacht an dieser Stelle. Erfreut es sich an der offenherzigen Frau im Lied oder ist es belustigt ob der familiären Konstellation auf der Bühne: Die Tochter bietet dem Vater ein Kindlein an?
Seltsamerweise ist es nicht die geschulte Helene, sondern Vater Grass, der in der alten und oft stark dialektal gefärbten Sprache überzeugend vorträgt. Helene dagegen intoniert selbstverständlich tadellos, schlägt aber beinah immer den gleichen Ton an, einen leicht aufmüpfigen nämlich, der wahrscheinlich "die Botschaft" verstärken soll. Aber wer hat gesagt, dass es gut ist, Lieder, die von Hunger und Armut handeln und von den engen Grenzen, die ein Frauenleben früher kennzeichneten, unbedingt trotzig vorzutragen? In meinen Ohren klingt das aufgesetzt.
Neutral im Ton und erhellend in der Wirkung sind dagegen die Briefe, die zwischen den Liedern zu hören sind. Wie sich die beiden Herausgeber der Liedsammlung, Clemens Brentano und Achim von Arnim, beraten, ob sie die Sprache bereinigen sollen und was sie sich von ihrem Leid an ihrer Zeit erzählen, ist unterhaltsam und bringt den historischen Kontext in Erinnerung. Viele Lieder erscheinen weniger seltsam, wenn die politischen Anspielungen verstanden werden, die Hinweise auf die Unruhen dieser Zeit kurz nach der französischen Revolution. Da taucht der "Bi-Ba-Butzemann" auf, der im Reich herumgeht (der kleinwüchsige Napoleon?), das ewig störende "bucklicht Männlein" (die allgegenwärtigen französischen Besatzer?) und der Refrain "die Gedanken sind frei" (als Mutmacher und Trost).
Trost, so zitiert Grass sich selbst aus dem Roman Der Butt, Trost erhofften sich Brentano und von Arnim mit ihrem Werk für das Volk. Der musikalische Abend enthält nämlich neben den Liedern und Briefen der Romantik auch noch das Kapitel "Die andere Wahrheit" aus Grass´ Roman Der Butt. Darin denkt sich Grass ein Treffen aus, in dem Brentano, von Arnim und andere an der Liedersammlung arbeiten. Grass erzählt also die Entstehungsgeschichte nach. Die politische Dimension der Volkslieder spart er zwar nicht aus: Sie sollten auch "den Stolz auf die eigenen Nation, ihre Tradition und ihre Geschichte stärken", steht im Booklet. Die nationalistischen Ambitionen mancher Romantiker sind Grass dagegen keine Bemerkung wert. Er wählt lieber das Kapitel "Die andere Wahrheit" aus, in dem er beschreibt, wie ein patriarchalisches Frauenbild die romantische Liedersammlung beeinflusst haben könnte.
Der ganze Butt-Roman ist diesem Anliegen gewidmet: Neben die Herrschaftsgeschichte eine Küchenhistorie zu stellen, in der die Frauen, genauer: neun Köchinnen, im Vordergrund stehen. Angestiftet zu dieser Perspektive hat ihn - Helene! Denn als Günter Grass´ Freundin Veronika Schröter zu Beginn der siebziger Jahre schwanger wurde, entbrannte ein Streit zwischen dem Paar. Die Frau wollte nicht auf ihre Karriere verzichten, und so wurden deren "radikale Emanzipationsbestrebungen" laut Volker Neuhaus, Grass-Biograph und Herausgeber seiner Werkausgabe, der Motor für Reflexionen über sex and gender. Das Ergebnis: Der Butt, der erfolgreichste Roman der siebziger Jahre (Heinrich Vormweg), ein aus den Tantiemen gestifteter Alfred-Döblin-Literaturpreis und - Helene. Sie ist die Tochter von Schröter und Grass.
Günter Grass / Helene Grass / Stephan Meier: Des Knaben Wunderhorn oder die andere Wahrheit. 2 CDs, 120 Min., Steidl, Göttingen 2004, 19,95 EUR
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