Als Rajzel Zychlinski geboren wurde, war das Jiddische noch keine untergegangene Sprache. Die Dichterin ist im Polen des beginnenden 20. Jahrhunderts mit dem Jiddischen aufgewachsen, und als 1928 ihr erstes Gedicht gedruckt wurde, da war es ein jiddisches "Lid", ein Gedicht in der Sprache ihrer Mutter. "Sehr kurz, sehr andersartig, sehr schön", urteilte die Kritik. Gedichte in freiem Versmaß gehörten damals zur Avantgarde.
Heute sah ich, wie ein Mann/ mit einem Mülleimer sprach/ am Broadway./ Er hat lange gesprochen/ und sich mit den Händen/ begleitet - so beginnt die Lesung von Iris Berben, die Random House Audio als Hörbuch in diesem Jahr auf den Markt gebracht hat. "Heut sah ich", heißt dieses Gedicht von Rajzel Zychlinski in der deutschen Übersetzung. Geschrieben hat die Dichterin es - 42 Jahre nach ihrer Einreise in die USA - in Jiddisch. Wo auch immer sie vor der Judenverfolgung Zuflucht gesucht hat - dem Jiddischen ist sie in ihren Gedichten immer treu geblieben. "Heut sah ich" heißt im Original: "Ch´hob haijnt gesen", und weiter: "ch´hob haijnt gesen a man/ redn mit a misstkan/ oif broadwej./ er hot geredt lang/ er hot sich zugeholfn/ mit die hent". Wie anders das klingt.
Nachzulesen ist das Original in einem Band, der Rajzel Zychlinskis gesamtes Werk enthält: Auf der einen Seite in Deutsch, auf der gegenüberliegenden in Jiddisch. Das ist gut, denn für ein wirkliches Verständnis reicht es nicht, sich in der jiddischen Version den Sinn zusammen zu suchen. Aber für den Klang ist das Jiddische unverzichtbar. Sofort entsteht eine ganz eigene Stimmung, Bilder tauchen auf, die etwas zu tun haben mit vagen, vielleicht auch klischeehaften Bildern vom jüdischen Leben in Osteuropa.
Aber das besondere an Rajzel Zychlinskis Gedichten ist es gerade, dass sie diese durch die Sprache geweckte Stimmung in ein Leben fernab des "Schtetls" transportiert hat. Denn Rajzel Zychlinski hat Erinnerungsbilder geschrieben, Miniportraits einer jiddischen Kindheit, vom Leben mit Bettlern, mit Liedern, die die Mutter gesungen hat. Und sie hat Klagelieder über die Auslöschung dieser Welt geschrieben. Dass sie diese Klage nun in der Sprache der Täter zu Gehör bringt, scheint Iris Berben mit einem unterschwellig immer vorhandenen Ton des Leidens wettmachen zu wollen - unangenehm bevormundend wirkt das.
Rajzel Zychlinski hat sich aber auch das Leben in der Großstadt New York zum Thema genommen, und hier, wenn sie von Menschen schreibt, die in sich versunken einsamen Tätigkeiten nachgehen, hat das Jiddische wieder eine andere Wirkung. Vielleicht, weil es so ungewohnt ist, diese so ganz andere Welt mit der Sprache von damals beschrieben zu hören. Als ob so zu der Einsamkeit der portraitierten Menschen noch die der Schreibenden, Betrachtenden dazukommt, die mit ihrer Sprache auch fremd und allein ist.
Oder auch ihre Gedichte außerhalb von Zeit und Raum: über die Liebe, über Kinder, über eine Stimmung auf einem Bahnhof, in Gesprächen zwischen einem Tisch und den Stühlen. Es ist ungewohnt, so etwas in Jiddisch zu lesen, und es ist gut für den eigenen Vorrat an Assoziationen zum Thema jiddisch.
Da erscheint der Kompromiss der Hörbuchproduzenten schlecht gewählt. Sie haben einerseits auf die Zweisprachigkeit verzichtet, und versuchen dann aber doch noch, etwas von der besonderen Färbung mit jiddischer Musik einzufangen. Das entspricht nun sehr den gängigen Vorstellungen. Damit bewirken sie ein Zementieren altbekannter Assoziationen, wo die Originalgedichte diese doch gerade ausweiten.
Vielleicht haben die Hörbuchmacher aus der gleichen Verlegenheit so viele Prosatexte aufgenommen: Sieben Minierzählungen hat Rajzel Zychlinski geschrieben, sechs sind auf der CD zu hören. Wo nicht so sehr das einzelne Wort zählt wie im Gedicht (teils sind sie nur neun Zeilen lang), da fällt auch der Verlust des Klanges nicht ganz so entscheidend ins Gewicht. So gesehen eine geschickte Wahl, nur ist das nicht repräsentativ für das Gesamtwerk.
Die Besetzung von Iris Berben hat offensichtlich wenig mit ihrer Fähigkeit, Gedichte zu lesen, zu tun. Ihrem Vortrag fehlen die feinen Nuancen: der Humor, das liebevolle Zwinkern, die Leichtigkeit mancher Szenen, auch die Mischung aus Melancholie und lakonischem Witz. Und bei wirklich traurigen Textpassagen spricht sie gleich mit ganz großen Emotionen. Schade. Dass Anliegen des Verlages, einer unverdientermaßen kaum bekannten Dichterin zu mehr Lesern beziehungsweise Hörern zu verhelfen, krankt an der ungeschickten Umsetzung.
Rajzel Zychlinski: di lider - Gedichte 1928-1991. Random House Audio, München 2005. 1 Audio-CD; ca. 70 Minuten, mit Beiheft, 18 EUR
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, 930 S., 19,90 EUR
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