Mehr als Bücher für Faule

GEGEN DEN ALLGEMEINEN TREND Auf der Leipziger Buchmesse präsentierte sich das Hörbuch als äußerst lebendige Gattung zwischen Marktgängigkeit und Experiment

Laute Beats tönen morgens um halb elf durch Halle 2, junge, aggressive Musik, die eher an Musiksender wie MTV und Viva denken lässt als an eine Buchmesse. Die meisten Besucher haben das wohl auch nicht erwartet, nur einige besonders junge Menschen lösen sich aus ihren Schulklassenformationen und pilgern zum Hörbuch-Forum der ARD. Hier ziehen drei Jungs ihre Kreise auf der Bühne, die Hosen HipHop-typisch auf Halbmast, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und die Arme vogelflugartig auf und ab bewegend. Sie rappen türkische und deutsche Texte vom "Verarscht-Werden" und anderen Krisen.

Ali Aksoy, DJ El Hazret und ihre Crew Konkret leben in Kiel, genauso wie Feridun Zaimoglu, Autor des Hörspiels Kanak Sprak, zu dem sie die Musik gemacht und teils auch die Texte gesprochen haben. Sie führen vor, wie man mit Musik und einer eigenen Sprache gegen Vorurteile und Missbilligungen angehen kann - im Hörspiel, im anschließend vorgestellten Feature von Beate Ziegs zum gleichen Thema und ein bisschen auch hier auf der Bühne. Die Mischung aus mitreißender Musik und eigentümlicher "Kanakensprache", wie die jungen Türken ihre türkisch-deutsche Ausdrucksweise selbst stolz nennen, ist ungewöhnlich im ARD-Hörspiel-Forum. Später werden Lesungen, Diskussionen und Hörspiele zu hören sein, die mehr den klassischen Programmen der Kultursender entsprechen.

Die jugendlichen Zuschauer und die beiden Produktionen von DeutschlandRadio Berlin fallen aber nicht nur hier aus der Reihe. Hörbuchinteressierte sind, laut einer Umfrage des Börsenvereins vom letzten Jahr, in der Mehrzahl über 30 Jahre alt und gehören zur Bildungs- und Verdieneroberschicht; sie bevorzugen Belletristik-Lesungen, erst dannach folgt das Hörspiel, während das Feature am unteren Ende der Beliebtheitsskala liegt.

Dass diese Käufergruppe nicht nur Geld hat, sondern auch bereit ist, es für Hörbücher auszugeben, haben inzwischen immer mehr Verlage bemerkt. Im letzten Jahr wurde in Deutschland mit Hörbüchern 70 Millionen DM Umsatz erzielt, und Marktkenner halten eine Steigerung auf 200 Millionen in den nächsten Jahren durchaus für möglich, so die Zeitschrift HörBUCH. Rekorde erzielen vor allem Hörbuchversionen von Klassikern und aktuellen Bestsellern: Sofies Welt, produziert von MDR und SWR und im Hörverlag München erschienen, erreichte letztes Jahr die 100.000-Stück-Grenze. Das über 10-stündige Großprojekt Der Zauberberg, produziert vom Bayrischen Rundfunk in Gemeinschaft mit dem gleichen Verlag, verkaufte sich seit letztem Dezember 8.000 Mal, und das bei einem Stückpreis von knapp 100 DM für die Kassettenversion. Das bestätigt den Trend, von dem auch Branchenkenner aus den USA und Großbritannien berichten: Dort werden ungekürzte Lesungen immer stärker nachgefragt, für die Preise von annähernd 100 Pfund (also mehr als 300 DM) bezahlt werden.

Die Lage war nicht immer so vielversprechend. Obwohl Hörspiele und Lesungen zum Radio gehören, seit es existiert, sind die vielfachen Versuche, Hörbucher mit Gewinn zu vertreiben, immer wieder gescheitert. Das lag einerseits daran, dass die Schallplatte, lange Jahre der wichtigste Tonträger, für viele zu empfindlich und das entsprechende Abspielgerät zu teuer war. Erst Ende der sechziger Jahre etablierten sich der günstigere Kassettenrekorder und die dazugehörige robustere Kassette auf dem Markt. Richtig durchsetzen konnte sich die Gattung trotzdem nicht so schnell. 1988 bekamen Verlagsgründer auf der Frankfurter Buchmesse noch zu hören, sie produzierten ja bloß für die ganz Dummen und Lesefaulen.

Diesem negativen Image arbeiten heute Rundfunkanstalten, Verleger und Buchhändler gemeinsam entgegen: Seit 1997 geben monatlich unabhängige Juroren in der hr2- Hörbuchbestenliste die 5 besten Neuerscheinungen bekannt. 1999 entschloss sich die FAZ, täglich eine ganze Seite ausschließlich Radioprogrammen und Rezensionen zu widmen, und in diesem Jahr waren Hörbücher schon zum zweiten Mal ein Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse. Über 70 Aussteller sind gekommen, um eine Auswahl der insgesamt 6.500 lieferbaren Titel vorzustellen, und neben dem Programm der ARD-Anstalten im erwähnten Hörbuch-Forum konnte sich das Fachpublikum über Themen wie "Gattungen des Hörbuches" und "Die Inszenierung von Hörbüchern" informieren.

Besonders öffentlichkeitswirksam und einer der Höhepunkte der Messe war die erstmalige Verleihung des Hörbuchpreises Hörkules, von den Lesern gewählt und vom Deutschen Buchhandel gestiftet. Verliehen wurde er während der ARD-Radionacht des Hörbuches, in der vier Stunden lang die verschiedenen Gattungen des Hörbuches in Gesprächen mit Autoren, Sprechern, Regisseuren und Musikern vorgestellt wurden.

Direkt in die Arbeit im Studio führte die Liveschaltung zum Hörspielstudio in Halle, wo gerade ein Kinderhörspiel von Albert Wendt entsteht. "Stell Dir vor, Du denkst diesen Satz jetzt zum ersten Mal, ganz frisch muss der kommen, versuch´s noch mal", wies Regisseur Götz Fritsch den Sprecher Hermann Beyer an, der sich höflich dagegen wehrte, seine "Haltung" zum Text dem Publikum zu erklären. Ausführende sind oft weniger begabt im Erläutern, aber zum Glück gab es dann seine verschiedenen Interpretationen zu hören.

Ganz deutlich wurde an diesem Abend, dass Verlage, Vertriebe und Buchhandel zwar wesentlich an der Vermarktung von Hörbüchern beteiligt sind. Es sind aber doch die Rundfunkanstalten, von denen die wichtigeren Impulse ausgehen. Nicht nur, dass Hörspielproduktionen mit geschätzten 25.000 DM allein für die Honorare von Sprechern, Technikern, Autor und Regisseur zu hoch sind, als dass sie ein Verlag ähnlich oft wie eine Rundfunkanstalt aufbringen könnte. Auch in Bezug auf Innovation und Einschätzung der Hörer ist man beim Rundfunk weniger auf den Markt hin orientiert als stärker am Experiment interessiert. So ist dem Hörspielleiter vom Hessischen Rundfunk, Christoph Buggert, etwas gelungen, was in Zeiten von immer häufiger eingesetzten dreiminütigen Kurzformaten geradezu weltfremd erscheint: Einmal im Jahr ist auf hr2 Radiotag, an dem 16 Stunden lang, von morgens 8 Uhr bis um Mitternacht, ohne Unterbrechung ein O-Ton-Feature gesendet wird. Die Reaktion der Hörer widerspricht allen Klagen über die schnelllebige und ungeduldige Konsumgesellschaft. "Die Hörer rufen den ganzen Tag lang an und erzählen, dass sie sich gar nicht losreißen können und tatsächlich von morgens bis abends vorm Radio sitzen", erzählte Buggert dem Radionachtpublikum. "Sie wollen, dass wir ihnen etwas zumuten, sie mögen es, einem langen Erzählstrom zu folgen."

Vielleicht war das, was pünktlich zur Preisverleihung um halb zwölf im Mediengarten passierte, ein gutes Sinnbild für den Unterschied zwischen der Stimmung im Radio und der marktorientierten Entwicklung des Hörbuches. Gewinner des Hörkules, wie sollte es bei 850.000 verkauften Exemplaren anders sein, war Harry Potter bzw. sein Sprecher Rufus Beck und die Geschäftsleiterin des Hörverlages, Claudia Baumhöver. Nachdem stundenlang kleine Einspielungen und nette Gespräche eine fast schon gemütliche Atmosphäre verbreitet hatten, brach plötzlich die Welt des Fernsehens ein: Für drei Minuten gingen alle Lichter im Mediengarten an, und ein dem Publikum bisher unbekannter Moderator gab den beiden Gewinnern genau so viel Zeit zu sprechen, wie für je zwei knackige Sätze nötig war.

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