Was sprechen sagen kann

Von der Dichterlesung bis zur »oral history« Der Hörbuchmarkt beginnt erst, die Möglichkeiten des Mediums voll auszuschöpfen

Dass sich Hörbücher seit gut zehn Jahren immer besser verkaufen, liegt bestimmt nicht am Namen. Bücher zum Hören? Wer, der selbst lesen kann, braucht das schon? Dabei besagt die paradoxe Bezeichnung nicht mehr, als dass es sich um Tonträger mit mindestens 50 Prozent Wortanteil handelt. Am häufigsten besteht dieser »Wortanteil« tatsächlich aus gelesener Literatur. Daneben gibt es aber inzwischen die ganze Bandbreite des Radioprogramms auf CD oder Kassette konserviert, also Hörspiele, Features, Mitschnitte von Theater- und Kabarettaufführungen und weitere Subgenres der Hörfunk-Produktion wie Zitat-Anthologien und Klangcollagen. Bei annähernd 7.000 deutschsprachigen Produktionen fällt es zunehmend schwer, den Überblick zu behalten. Die Kataloge, die ihr Angebot nach dem Inhalt und nicht nach der Produktionsform präsentieren, führen ebenfalls leicht in die Irre, macht es doch einen enormen Unterschied, ob ein Krimi von einem einzelnen Sprecher vorgelesen oder als Hörspiel inszeniert wird, in dem Stimmen, Musik und Geräusche eine ganz neue Komposition bilden.

Dass es sich bei der Mehrzahl der Hörbucher um gelesene Literatur handelt, hängt sicher auch damit zusammen, dass sich unter einer Lesung jeder etwas vorstellen kann, und so die Scheu vor dem neuen Medium leichter überwunden wird. Nicht zuletzt sind Lesungen billiger zu produzieren, sodass nicht nur die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sie in Auftrag geben, sondern auch immer mehr kleine private Verlage.

Bis in die achtziger Jahre waren Hörbücher nämlich fast ausschließlich Produktionen der Sendeanstalten. Um sie gewinnbringend zu verkaufen, mussten die Rechte aller Beteiligten einzeln geklärt werden, was bei 60 Leuten ein so großer Aufwand war, dass die Vertriebe kapitulierten. Seit neue Tarifverträge eine Weiterverwertung mit einschließen, fängt das Vermarkten von Hörbüchern an, sich zu lohnen.

Seitdem stehen sich im Medium Hörbuch zwei Welten gegenüber. Das erlesene Programm der Radioanstalten mit kostenaufwendigen Hörspielen und Features bekommt Konkurrenz von Bestsellern wie Die Ich-Aktie und Harry Potter. Letzterer brach auch als Hörbuch jegliche Rekorde: Eine Millionen Mal verkaufte der HörVerlag die Lesung mit Rufus Beck. Sonst sind 1.500 verkaufte Exemplare guter Durchschnitt.

Die schnelle Mark lässt sich aber selbst mit Lesungen nicht so einfach machen. Denn egal, wie bekannt die literarische Vorlage auch sein mag: Über die Qualität einer Lesung entscheidet die Inszenierung. Hier steht ganz die sinnliche Qualität der menschlichen Stimme und der gesprochenen Sprache im Vordergrund. Ohne Musik und meist ohne Abwechslung durch andere Stimmen oder akustische Spielereien muss sie allein die Aufmerksamkeit des Hörers gewinnen und halten - bei manchen Hörbüchern stundenlang.

Rufus Beck scheint das gelungen, mit seinem Talent, andere Stimmen nachzuahmen und so den vielen Freunden und Feinden von Harry Potter einen unverwechselbaren Charakter zu verleihen.

Ein undankbarer Text kann in der Hörbuchfassung gewinnen, wenn der Sprecher ihn in ein neues, überraschendes und interessantes Licht rückt. Manchmal reicht es schon, ein Vorurteil zu überwinden, indem eine gute Lesung Nuancen, Spannungen und Unausgesprochenes zur Wirkung bringt. So geschehen mit Julia Stembergers Vortrag von Die Wand. Dem Roman von Marlen Haushofer aus den siebziger Jahren haftet das Stigma »Frauenliteratur« an, doch in der Lesung ist nichts von ideologisierter Geschlechtertrennung zu hören. Stattdessen spricht die Schauspielerin vor allem nachdenklich, suchend und mit unerwarteten Pausen die Erinnerungen einer Frau, die, abgeschnitten von der Welt, alleine für ihr Überleben sorgen muss. Gerade dass die Stimme nicht leidenschaftlich wird, nicht zu anschaulich Vergangenes beschreibt und Distanz zu den außergewöhnlichen Ereignissen wahrt, macht die Interpretation so überzeugend.

Damit solche Hörbücher zustande kommen, muss ein guter Regisseur den passenden Sprecher auswählen und mit diesem gemeinsam die besondere Interpretation entwickeln. Das können auch private Verlage leisten, zumal sie oft von Branchenkennern gegründet werden wie zum Beispiel der Verlag parlando von Christian Brückner, einem der meistbeschäftigten (Synchron-)Sprecher Deutschlands. Hörspiele und Features auf CD herauszubringen, ist aber wegen der höheren Produktionskosten immer noch fast ausschließlich Angelegenheit der Radioanstalten.

Wie weit die Möglichkeiten des Genres reichen, zeigen Ausnahmeprojekte, wie sie sich der hessische Rundfunk seit 6 Jahren leistet und als (gekürztes) Hörbuch erhältlich macht. Eindrucksvoller als jedes Geschichtsbuch vermittelt das O-Ton Hörspiel Unter dem Gras darüber von Inge Kurtz und Jochen Geers, wie es sich im 20. Jahrhundert gelebt hat. Über 900 Minuten lang erzählen ganz »normale« Menschen verschiedenster Altersgruppen von ihren Zielen, Lieben und Leiden, die sich mal mehr, mal weniger deutlich mit den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen verbinden. Was es für wen bedeutet hat, den zweiten Weltkrieg in Deutschland zu überleben, bekommt man hier durch Stimmen und Sprechweisen vermittelt, die noch mal ein anderes als das kanonisierte Wissen bewahren. Besonders erfreulich ist dabei, dass die beiden Autoren ganz auf Kommentare verzichtet haben und allein durch die strukturierte Montage und die Konzentration auf die Hauptthemen Leben, Liebe, Beruf und Altern durch den Chor von Zeitzeugen führen.

Wie überhaupt die Verbindung von Geschichte und Tondokumenten äußerst produktiv erscheint. Denn was in mühevoller Präzisionsarbeit in den Aufnahmestudios absichtsvoll hergestellt wird, geben historische Tondokumente ganz unwillkürlich preis: Eine Grundhaltung oder eine Stimmung, die historische Ereignisse und Epochen noch einmal anders kennzeichnen als Daten und Fakten - zumal auch die Sprache Moden unterliegt, die in Wortschatz und Duktus etwas über die Zeit aussagen. In den Rundfunkarchiven sind Tondokumente en masse vorhanden, die bei entsprechender Bearbeitung zum idealen, weil zugänglich gemachten Medium der Erinnerung werden können.

Die Schätze in den Archiven sind auch den Verlagen nicht entgangen. So hat sich der kleine Verlag Mnemosyne darauf spezialisiert, historische Aufnahmen von Hörspielen und Bühnenaufführungen wieder heraus zu geben, und das mit Erfolg. Shakespeares König Lear mit Fritz Kortner in der Titelrolle, 1958 vom Kölner Rundfunk als Hörspiel aufgenommen, gewann im vergangenen Jahr die Auszeichnung »Hörspiel des Monats«.

Inge Kurtz/Jochen Geers: Unter dem Gras darüber. Der HörVerlag, 10 MC, 198 DM.

Die Wand von Marlen Haushofer, gelesen von Julia Stemberger, waku word/Salta Music, 2 CDs

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