Europa sollte weder wegsehen noch schweigen

Türkei Wenn sich die Regierung von Premier Erdogan weigert, Säkularismus, Islam und Demokratie miteinander zu versöhnen, hat das fatale regionale Folgen
Ausgabe 24/2013

Säkularismus – was bedeutet er den Türken? Geht es dabei nur um die Frage, ob wir Alkohol kaufen können, wann wir wollen, oder ob das Kabinenpersonal von Turkish Airlines roten Lippenstift auflegen darf? Auch wenn die Medien solche Themen lieben – sie sind nicht der Grund dafür, dass Zehntausende auf die Straße gehen und sich einer Polizeiattacke nach der andern erwehren müssen. Es gibt größere Herausforderungen, mit denen der Säkularismus in der Türkei konfrontiert ist.

Zunächst einmal ist unser Bildungssystem in Gefahr. Die regierende AKP vergibt den Löwenanteil der Staatsgelder an Moscheen und religiöse Schulen, während die Finanzen für Lehranstalten, die eine säkulare Erziehung anbieten, gekürzt werden. In den vergangenen fünf Monaten sind allein in Istanbul 98 Grundschulen in religiöse Imam-Hatip-Schulen umgewandelt worden. Eine Mutter wandte sich mit der Klage an mich, die einst 1.200 Schüler unterrichtende Schule ihrer Tochter werde nun zu einer Imam-Hatip-Schule und würde nur noch 320 Schüler aufnehmen. Bald seien es allein Kinder der Wohlhabenden, die in den Genuss einer säkularen Erziehung kämen. „Was sollen wir, die Armen, denn tun?“, fragte sie mich.

Es passt dazu, dass in unserem sozialen Leben die Frömmigkeit einen immer höheren Stellenwert erreicht. Nur ein paar Beispiele, was konkret geschieht: Wenn man während des Ramadan in der Öffentlichkeit isst, erregt das große Empörung. Im Religionsunterricht bringt man den Kindern bei, wie sie sich in der Moschee zu verhalten haben, anstatt sie Religionsphilosophie zu lehren. Wer sich, wie die Glaubensgemeinschaft der Aleviten, nicht auf die sunnitische Tradition bezieht, den betrachtet die Regierung als Gegner.

Premier Tayyip Erdoğan drängt die Frauen, nicht zu arbeiten, sondern zu Hause zu bleiben und Kinder zu bekommen. Zu allem Überfluss grassiert eine religiös gefärbte Korruption. Werden Arbeiter für den öffentlichen Dienst eingestellt, dann in Abhängigkeit von ihrer Kenntnis des Islam – das Ergebnis von Prüfungen zur Aufnahme in ein Dienstverhältnis gilt als zweitrangig. Indem sie ihren Anhängern Positionen im Bildungswesen und in der Bürokratie zuschanzt, ist die Regierung dabei, die eher fragilen demokratischen Tugenden dieses Landes zu unterlaufen. Auch die Redefreiheit ist eine Farce. Es hat sich zwar herumgesprochen, dass in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis sitzen als kaum irgendwo sonst. Aber es ist weniger bekannt, wie die Repressionen erzwingen, dass über vieles gar nicht mehr berichtet wird.

Gegen den politischen Islam

Nach ihrer Gründung 1923 galt die türkische Republik als wichtiges Labor, um den modernen säkularen Staat mit einer überlieferten islamischen Gesellschaft zu versöhnen. Egal, wie störanfällig diese Synthese auch immer gewesen sein mag – die ihr zugrunde liegende Transformation eines Landes galt vielen als Modell für den Rest der islamischen Welt. Man hoffte, die Reformen der neuen Republik würden an kommende Generationen weitergegeben.

Niemand möchte den Glauben aus dem öffentlichen Leben verdammen, aber der politische Islam in der Türkei begnügt sich nicht mit dem Part des moralischen Ratgebers. Er will das Land nach dem Muster einer frommen sunnitischen Nationalidee formen und jene Bürger überwachen und bestrafen, die widersprechen.

Im Westen aber will das niemand wissen. Auch die nicht, die solche Verhältnisse in ihren Ländern nie zulassen würden. Dabei ist die Haltung der EU-Führung in dieser Frage sehr wichtig, weil sie die Debatte in der Türkei beeinflusst. Leider ist Europa zu sehr mit eigenen strategischen Interessen beschäftigt und sieht weg. Sicher sollte man nicht verlangen, dass sich der Westen in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischt, aber er könnte damit aufhören, eine Regierung zu decken, die so wenig für die Freiheitsrechte übrig hat.

Wo sollte es noch möglich sein, Islam, Säkularismus und Demokratie zu versöhnen, wenn nicht in der Türkei? Worin bestehen die globalen, vor allem regionalen Konsequenzen dieses Scheiterns?

Wer im Westen die Ansicht vertritt, dass die Türkei von einer Demokratie profitiert, deren Gefüge religiös durchsetzt sei, sollte einen Blick darauf werfen, wie dieses Gefüge heute aussieht und wie demokratische Rechte im Namen einer intoleranten Mehrheit zerrieben werden. Gebt nicht die letzten Laizisten im Nahen Osten preis, die im Namen der Demokratie Erdoğans Plänen zum Opfer fallen! Ihr tut damit so, als sei ein geringeres Maß an Rechten für unsere Region „gut genug“. Das erinnert fatal daran, wie Frankreich einst Universitätsdiplome aus seinen arabischen Kolonien als „Bon pour l’Orient“, also als gut genug für den Orient, klassifiziert hat.

Safek Pavey, geboren 1976, hat für die UNO gearbeitet. Seit 2012 sitzt sie für die sozialdemokratische Oppositonspartei CHP im türkischen Parlament

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