Die Debatte "Globalisierung - Nation - Internationalismus" startete im Freitag 8 mit einem Ausschnitt aus Erhard Cromes Studie zum Verhältnis der Linken zur Nation, die er im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt hat. Michael Jäger (Freitag 9) und Winfried Wolf (Freitag 10) antworteten bisher darauf. Jäger sieht in der deutschen Geschichte kein demokratisches Ereignis, über das sich ein Nationengedanke in einer Weise füllen ließe, wie dies etwa Frankreich mit der Französischen Revolution habe. Nationalismus sei in Deutschland "auf Auschwitz hinausgelaufen". Jäger kritisiert Cromes abstrakten Begriff von "Nation", den er auf ein überkommenes Verständnis von "Gemeinschaft" zu binden versuche und führt gegen ihn Habermas´ "Verfassungspatriotismus" ins Feld. Winfried Wolf diagnostiziert bei Crome eine "groteske Verkennung der politischen Umstände", da dieser in Deutschland keine imperialistischen Tendenzen sehe. Die gesamte deutsche Balkanpolitik seit 1990 sei Ausdruck imperialistischer Tendenzen. Eine Stärkung des Nationengedankes gehorche dem Mainstream und münde in die Militarisierung der Politik sowie imperialistisch motivierte Kriege.
Nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht ... Unsere Bürger haben begriffen, dass die Zeit unseres Ausnahmezustandes vorbei ist." Klaus Kinkel, Bundesaußenminister 1993.
Der geschichtliche Bezug ist deutlich, die Aussage von bestechender Offenheit: Expansionsdrang und Weltherrschaftsansprüche des preußisch-deutschen Kaiserreichs und des deutschen Faschismus, die die Menschheit in das Blutmeer zweier Weltkriege stürzten, waren angesichts "unserer Wünsche und unseres Potenzials" offenbar gar nicht so abwegig; allerdings wäre es besser gewesen, solcherart Ziele "im Einklang mit unseren Nachbarn" zu verfolgen. Das wiedervereinigte Deutschland hat - von Genscher bis Fischer - die nötigen Lehren gezogen. Wenn schon Weltmachtambitionen, dann diplomatisch geschickt, Schritt für Schritt und mit Rückhalt in der EU. Die Erfolge in Überwindung des ungeliebten "Ausnahmezustandes" sind unübersehbar: Deutsche Bomber über Belgrad, deutsche Führungsrolle beim NATO-Einsatz in Mazedonien, deutsche Soldaten in Kabul, am Horn von Afrika und in Kuwait, wer hätte das noch vor fünf Jahren für möglich gehalten!
Wenn Erhard Crome in seiner Studie Die Linke und ihr Verhältnis zu Nation und Nationalstaat schreibt: "Die Vereinigung von 1990 wurde nicht Ausgangspunkt von irgend etwas, schon gar nicht für eigene deutsche Weltmachtpolitik", zeugt dies von einer Realitätsausblendung, die schockiert. "Nation und parlamentarische Verfasstheit, Schutz der Menschen- und Bürgerrechte sind in eins gesetzt," erläutert Crome, und meint damit im Ernst die heutige Bundesrepublik: "Antiterrorpaket", Kinderarmut, Abschiebehaft, Nazi-Schlägerbanden und "national befreite Zonen" inklusive. Die Problematik der im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung angefertigten Studie liegt keineswegs primär in ihren Thesen zur Nation im allgemeinen und zur deutschen Nation im besonderen; hier findet sich vieles, dem man ohne Vorbehalt zustimmen kann. Die Problematik der Studie liegt in ihrer ungenierten Schönrederei des heutigen kapitalistischen Deutschland. Das aber ist eigentlich ein anderes Thema und die Vermischung des einen mit dem anderen ein generelles Problem der linken Nationen-Debatte. Diese findet nämlich weithin auf einer Metaebene statt: über die "nationale Frage" wird geredet, die soziale aber ist eigentlich gemeint. Diese Vermengung ist dafür verantwortlich, dass die Debatte zuweilen irrationale Züge trägt. Ob einer die Thüringer Berge oder die Eifel liebt oder eher den warmen Duft südlicher Pinienwälder, ob einer beim Vernehmen sächsischer oder schwäbischer Mundart heimatliche Gefühle oder eher Fluchtbedürfnisse verspürt, ist ebenso Privatsache wie mögliche Vorlieben für Schuberts Klavierkonzerte oder amerikanischen Jazz, russische Volksmusik oder deutsche Schlager; gleiches gilt für den Umstand, ob jemand seine grundlegenden Bildungserlebnisse Goethe und Thomas Mann oder Shakespeare und Walter Scott verdankt. Öffentliche Äußerungen zu diesem Themenkreis sind keine politischen Äußerungen, selbst wenn sie von Politikern stammen. Politisch werden sie nur dadurch, dass sich die Akzeptanz inakzeptabler gesellschaftlicher Verhältnisse nicht selten hinter einer neu entdeckten Liebe zu Landschaft, Land und Leuten zu verstecken pflegt. Aber genau diese Ineinssetzung darf nicht hingenommen werden. "Nie wieder Deutschland" war eine ebenso hilflose wie falsche Antwort, weil sie eben nicht spezifizierte, welches Deutschland es nie wieder geben sollte. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokraten 1914 war nicht als Ausdruck plötzlicher Vaterlandsliebe schändlich, sondern als Unterstützung eines imperialistischen Kriegs. Es gab keine genetische und auch keine historische Erbanlage, die die "deutsche Nation" zwanghaft und unausweichlich in den Faschismus und nach Auschwitz trieb. Noch hinter der irrsinnigsten Barbarei standen rationale (und nicht "nationale"!) Interessen. Krieg und Völkermord waren hochprofitabel; "Tod durch Arbeit" sicherte Mehrwertraten nahe 100 Prozent. Und immer lassen sich Menschen dann am besten beherrschen, wenn es gelingt, Sündenböcke zu kreieren, auf die noch der am schlechtesten Gestellte herabsehen und die er für seine Misere verantwortlich machen kann. Dass Nationalchauvinismus und Völkerhass in der Regel dort am fruchtbarsten gedeihen, wo der verteilbare Kuchen kleiner und daher der Kampf um den persönlichen Anteil rücksichtsloser wird, ist kein Zufall. Dies gilt für die Weimarer Republik nach der Weltwirtschaftskrise ebenso wie für das IWF-reformierte Jugoslawien, dessen Bruttosozialprodukt 1990 um 7,5 Prozent und 1991 um 15 Prozent gesunken war. Auch das heutige Deutschland ist nicht deshalb wieder kriegsfreudig und nach innen zunehmend aggressiv, weil es "deutsch" ist, sondern weil die "Wiedervereinigung" unter ganz bestimmtem gesellschaftlichen Vorzeichen erfolgte: Sie war Resultat der Niederlage des ersten antifaschistischen und antikapitalistischen Staats auf deutschem Boden (an dem man viel berechtigt kritisieren, dem man diese Qualität aber nie mit Recht absprechen kann), und sie erfolgte als Re-Etablierung von Macht und Einfluss jener östlich der Elbe nach 1945 enteigneten Wirtschaftskonzerne, die, ihrer Nachkriegs-Fesseln ledig und mit Blick auf die neue "Freiheit" bis zum Ural, unversehens Lust auf mehr verspürten. So begründete das Handelsblatt im Jahr 1999 die von deutschen Energiekonzernen geplanten Milliardeninvestitionen zur Exploitation russischer Kohlenwasserstoffe: "In wichtigen anderen Förderregionen der Welt befinden sich attraktive Öl- und Gasvorräte weitgehend in der Hand internationaler Energiekonzerne mit Sitz in den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien. Deutsche Energieunternehmen sind nicht zuletzt durch politische Eigentumsverluste nach den Weltkriegen ins Hintertreffen geraten. Seit dem politischen Tauwetter in Osteuropa werden aber die Energietrümpfe neu verteilt" (Handelsblatt 14.4.99). Die Penetranz, mit der die SPD-Grüne-Regierung den USA deutsche Bundeswehrtruppen für deren Kriegszüge aufdrängt, hat die gleiche Ursache: Man will präsent sein beim Gerangel um die "Energietrümpfe" Zentralasiens oder des Nahen Ostens. Der Unterschied zwischen Schröder und Bush liegt in dieser Hinsicht lediglich darin, dass die auftraggebenden und im Erfolgsfall profitierenden Großunternehmen andere sind. Eine Kritik, die nicht diese Kriege selbst, sondern nur die deutsche Beteiligung an ihnen ablehnt, ist daher ebenso verfehlt wie eine Argumentation, die Schröders Kriegspolitik nur unter dem Aspekt allzu folgsamer Amerika-Hörigkeit missbilligt. Letzteres trifft überdies nicht zu, denn der "Hilfsdienst" war ausdrücklich unerwünscht, wie US-Diplomaten öffentlich verlauten ließen: "Germany was responding to an American request, Mr. Schroeder said, but Washington had not asked Germany to participate either in air strikes or putting in ground troops. In fact, Germany, like Italy, has been pressing Washington to respond to offers of military assistance made immediately after Sept. 11" (International Herald Tribune, 8. 11. 01)
Die Debatte darüber, ob es sich bei Deutscher Bank, Daimler-Chrysler, RWE, Eon etc. überhaupt noch um deutsche oder längst um multinationale Unternehmen handelt, ist müßig. Zum einen gehen viele Fusionen mit einer Enthauptung des unterlegenen Unternehmensvorstands einher. Bei Daimler wurde dies besonders offen und arrogant praktiziert, im internationalen Konzerngeflecht der Deutschen Bank mag sich dies differenzierter darstellen. Vor allem aber ist die Frage, welche Sprache die führenden Manager sprechen, von weit geringerer Relevanz als die Frage, welche Länder und Regierungen im besonderen Einflussbereich des betreffenden Konzerns liegen. Eine Zuordnung in dieser Hinsicht ist meist problemlos möglich, denn die Chance, Nationalstaaten für ihre Interessen einzuspannen, ist selbst für Global Player nicht überall gleich groß. So muss schon mal der amerikanische Präsident persönlich intervenieren, wenn ein europäischer Kartellwächter Boeing und McDonnel Douglas die Fusionspläne versalzen möchte; und selbstredend profitiert der Rüstungsriese EADS in erster Linie von europäischen und mitnichten von amerikanischen Hochrüstungsprogrammen. Auch wird der Eon-Konzern Müllers Ministererlaubnis zur Ruhrgas-Übernahme wohl mit der ausdrücklichen Begründung erhalten, es sei Aufgabe der hiesigen Politik, die internationale Wettbewerbsstellung deutscher Unternehmen zu stärken. Im Juni 1999 - die NATO-Bombardements gegen Jugoslawien waren kaum beendet - wurde in London eine den Kosovo-Aufbau betreffende "Task force für britische Interessen" gegründet. Unter der Überschrift "Diesmal will London nicht zu spät kommen - Wirtschaft erwartet politische Auftragsvergabe" berichtete die FAZ (14.6.99) über die Ziele des Lobbyvereins: "Was die Briten vermeiden wollen, ist eine Wiederholung der Versäumnisse nach dem Golfkrieg. ... Auch wenn die Amerikaner wegen ihrer militärischen Führungsrolle den Großteil der Wiederaufbauverträge von Kuweit erhielten, blieb für die Briten - trotz ihres nicht unwesentlichen militärischen Beitrags - zu wenig übrig, klagen manche Wirtschaftsvertreter in London. Auch nach dem Bosnien-Krieg, wenige Jahre später, hatten die Briten häufig das Nachsehen - trotz vieler Konferenzen und Reisedelegationen. ... Bisher ist nach jedem Krieg", erläutert die FAZ trocken, "der Wiederaufbau von politischen Erwägungen geprägt gewesen. Daher besteht der führende Industrieverband Confederation of British Industry (CBI) darauf, dass sich die Regierung aktiv einbringt..." Die Aufträge des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Deutschland oder der großen europäischen Lobbyistenrunden in Brüssel sehen ähnlich aus. Den Begriff "nationale Interessen", den auch Crome gebraucht, sollte man in diesem Kontext besser aus dem Wortschatz streichen. Auch wenn es seit 1990 Mode geworden ist, Irrtümer bei Marx zu entdecken. Es gibt doch immer wieder Punkte, in denen er hartnäckig recht behält.
Sahra Wagenknecht ist Mitglied des Parteivorstands der PDS. Von ihr erschien zuletzt Die Mythen der Modernisierer (Dingsda-Verlag), Querfurt
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