Jede Gesellschaft hat ihre Gesslerhüte. Diese werden allerdings nicht wie zu Zeiten von Wilhelm Tell auf dem Marktplatz aufgestellt, sondern man nennt sie neudeutsch „Staatsraison“. Frei nach nach Wikipedia ist die Staatsraison ein grundsätzliches Orientierungs- und Handlungsprinzip, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität zur entscheidenden politischen Maxime erklärt. In diesem Sinne ist es klar, dass für die Bundesrepublik etwa die Menschenrechte oder die Demokratie nicht verhandelbar sind.
Immer wieder hört man nun, dass das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsraison gehöre. Dies ergebe sich aus der Schoah, aus der uns Deutschen eine besondere Verantwortung erwachsen sei. Dies ist ein einmaliger Vorgang, der aus einem Agatha-Christie-Krimi stammen könnte: Der Täter erklärt sich nach der Tat selbst zum Beschützer der Opfer, die zufällig überlebt haben und führen den Detektiv ständig an der Nase herum. Denn hätte es nicht die Glopkes, Kiesingers und all die anderen alten Nazis gegeben, die in der jungen Bundesrepublik in höchste Ämter kamen, wäre die plötzliche Beschützerrolle vielleicht noch eine glaubhafte Reaktion. Da es aber keinen wirklichen Elitenwechsel gab, bleibt ein tiefes Misstrauen gegen diese Art von Philosemitismus.
Das alles erinnert sehr an die „unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion“, die es ja nach offizieller Lesart in der DDR gab und dort ebenfalls der Verdrängung der Schuld diente. Keine Rede, keine wissenschaftliche Publikation durfte in den Druck, wenn der Autor nicht vorher deutlich gemacht hatte, was dem letzten Parteitag der KPdSU und dem jeweiligen Genossen Generalsekretär alles zu verdankte war. Und genau so, wie die deutsch-sowjetische Freundschaft in den meisten Fällen nur plakativ in Form von Brigadeabenden etc. stattfand, so sieht es mit der deutsch-israelischen Freundschaft aus. Denn ein Großteil der Bevölkerung dürfte weder Kontakte und Freundschaften mit Juden pflegen, wie sie auch andere Minderheiten wie die Araber, Türken, Vietnamesen etc. höchstens aus der Gastronomie oder vom Gemüsestand kennen.
Nun wird das Verbrennen einer israelischen Flagge während einer palästinensischen Demonstration zum Anlass genommen, nicht nur die üblichen Talkshows und Zeitungskolumnen zu füllen, sondern gleich auch einen Beauftragten für Antisemitismus bei der Bundesregierung einzufordern.
So lange ich denken kann, fand in Deutschland jüdisches Leben unter Polizeischutz statt. So stehen in Berlin vor jeder Synagoge und jeder anderen jüdischen Einrichtung mindestens ein Polizist, gelegentlich aber auch Mannschaftswagen und gepanzerte Fahrzeuge. Der Besuch im jüdischen Museum ist nicht möglich, ohne eine Sicherheitsschleuse zu passieren, die denen am Flughafen in nichts nachsteht. Und spätestens seit den Olympischen Spielen in München 1972 hat der Palästinenserkonflikt Deutschland in seiner blutigen Form erreicht. Und ebenfalls erinnere ich mich an zahlreiche geschmacklose Witze, die meine deutsche Mitschüler vor 40 Jahren über die Shoah machten, ohne, dass es groß zu Empörung kam. Da wurde schon mal grinsend auf dem Schulhof gefragt, wie viele Juden denn in einen Volkswagen passen oder was der Unterschied zwischen einem Türken und einem Juden sei. Den aufsichtsführenden Lehrer störte dies nicht wirklich, weil der lieber im Unterricht aus seiner „großartigen“ Zeit bei der HJ und als Flakhelfer erzählte, anstatt Latein zu lehren und selbst, wenn es ihm in der Klasse zu laut war die Schüler niederbrüllte, „hier ist ja ein Lärm wie in einer Judenschule“.
Antijudaismus umgab mich damals so selbstverständlich wie man über „Zigeuner“ schimpfte oder über die Italiener und Spanier herzog und sich über die Sprache und das Essen dieser „Gastarbeiter“ lustig machte, bevor diese dann langsam in der Hierarchie aufrückten, während die nachrückenden Türken den Platz am unteren Ende der sozialen Verachtung übernahmen. Als Kind erlebte ich dieses alles völlig unkritisch und natürlich spielten wir mit „Juddeferz“, wie zu Silvester die kleinen Knaller von allen genannt wurden.1
Wir waren als Kinder so dumm und unaufgeklärt, wie viele der heutigen arabischen Kinder in Neukölln oder anderswo, denen man nur ein Mikrophon hinhalten muss, damit sie ihren, irgendwie von Brüdern, Vätern und Freunden gehörten, Quatsch zum Besten geben. Und natürlich ist der, der dort den dümmsten und schärften Spruch loslässt der „King“ oder der „Oberboss“. Denn hier ist die Frustration groß und sucht sich gerne ein Ventil. In der Realität haben diese Kinder jedoch so wenig Kontakt zu Juden, wie wir es vor 40 Jahren hatten. Dennoch kann ich sagen, dass meine Schüler in Neukölln, die sonst durchaus mit antiisraelischen und antijüdischen Sprüchen auffielen, einen jüdischen Aushilfslehrer, der ein Jahr bei uns unterrichtete, erstaunlich schnell akzeptierten. Nach einem Tag mit kleinen Aufregungen war das Thema durch und der Kollege machte seinen Job, wie jeder andere auch.
Ich bin heute ganz froh, dass mich meine Eltern recht abrupt mit den Folgen des Antijudaismus konfrontierten. Wir besuchten Bergen-Belsen und ich stand nicht nur Fassungslos vor den Massengräbern, sondern besonders vor dem Bild von Anne Frank, welches dort in einer Ecke hing. Sie war auf dem Bild gleich alt, wie ich damals, und an diesem einen Menschen wurde nicht nur die Frage nach dem „Warum“ ganz konkret, sondern auch alles, was ich bis dahin in meinem Umfeld über Juden gehört hatte, geriet ins Wanken. Und schon als Kind fiel mir die Parallele zwischen den judenfeindlichen Witzen und den Witzen über die Türken auf. In beiden Fällen spielten die Witze mit dem Tabu des Genozids. Heute weiß ich, dass solche Witze kein „Scherz“ sind, sondern dass, in ihnen schon der Gedanke an den Genozid vorhanden ist, der wie alles Gedachte zur Ausführung drängt, jedoch glücklicherweise noch gehemmt wird.
Antijudaismus, wie der Antisemitismus korrekt heißen müsste, ist nur eine Unterform des Rassismus. Und wie jede Hetze gegen Minderheiten oder der Hetze gegen andere Völker und Glaubensrichtungen ein Verbrechen. Warum deshalb nur der Antijudaismus zur Staatsraison gehören soll und alle anderen Formen des Rassismus nicht, erschließt sich mir nicht. Ist etwa der allgegenwärtige Antiziganismus und die Hetze gegen die Roma besser? Fielen nicht auch die Sinti und Roma, genau wie die Juden, unter die Rassegesetze und wurden sie nicht auch in Auschwitz vergast? Warum gibt es dazu nichts im Schulunterricht? Der Fragenkatalog ließe sich verlängern. Und schließlich stellt sich mir die Frage, ob nur der Staat Israel schützenswert ist, oder nicht auch der Nachbar Syrien oder der Irak. Denn dort scheint ja der Schutz des Staates nicht zu gelten, weil sich dort die Großmächte bereits an die Aufteilung gemacht haben, wie sie dies schon einmal nach dem ersten Weltkrieg taten. Im Gegenteil, als es um den Zerfall Jugoslawiens ging, war Deutschland der erste Staat, der Slowenien anerkannte und damit diesen Zerfall erst richtig beschleunigte, mit all seinen schrecklichen Folgen. Aber der Genozid an den Bosnischen Muslimen, das völlige Versagen der Europäer und Amerikaner, die tatenlos zuschauten, als in Srebrenica und an anderen Orten tausende Muslime massakriert wurden, ist nicht im Bewusstsein der Europäer.
Mich beunruhigt der aktuelle Diskurs, denn er reflektiert nicht, dass jetzt schon seit Jahren Woche für Woche Demonstrationen gegen eine angebliche Islamisierung Deutschlands stattfindet. Auf meiner Laufstrecke war in der letzten Woche an mehreren Stellen in riesengroßen Lettern „Moslems raus“ gesprüht. Und selbst in Tschechien, Polen und Österreich werden mit diesem Thema Wahlen gewonnen. Rechtsnationalistische Parteien und Bewegungen schießen überall wie die Pilze aus der politischen Landschaft Europas, übernehmen Regierungen und die Mehrheit der Bürger geht nur achselzuckend zum Tagesgeschäft über. Und selbst in Deutschland hat sich der rechte Diskurs soweit in die Mitte durchgefressen, dass es in einigen Bundesländern Heimatministerien gibt und selbst Sigmar Gabriel den Begriff „Heimat“ in der SPD salonfähig machen möchte. Als könne der Exportweltmeister Deutschland, der einer der weltweit größten Waffenhändler ist, mit ein bisschen Folklore nach hinten aus der Globalisierung heraus springen.
Angesichts dieser Entwicklungen bräuchten wir höchsten einen Beauftragten Beauftragten für Antirassismus und Zivilgesellschaft. Wir bräuchten Gerichte, die nicht auf dem rechten Auge blind sind und den § 166 des Strafgesetzbuchs, der die Störung des Religionsfriedens sanktioniert, nicht nur anwenden, wenn man irgendjemand den Papst verunglimpft oder einen Witz über eine biblische Erzählung macht, sondern auch dann, wenn jemand gegen den Islam, gegen das Judentum oder gegen Atheisten und jede andere Weltanschauung hetzt. Denn wenn etwas Staatsraison sein sollte, so ist es die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und die Würde einer jeden Person unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, religiöser oder politischer Überzeugung.
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