Gaza und die Reaktionen

Antijudaismus: Arabische Jugendliche und die Doppelmoral Deutschlands

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Die Berichte vom Krieg in Gaza erreichen mich im Urlaub in Sarajevo. Auch die Berichte der Demonstrationen in Berlin und in anderen deutschen Großstädten sehe ich. Ich sehe, wie meist junge arabische Männer antijüdische Parolen rufen und lese und höre Kommentare, über den „Antisemitismus“ der arabischen Einwanderer – als seien die Araber selbst keine Semiten. Die Aufregung ist groß über diese Äußerungen, die natürlich alles andere als akzeptabel sind. Kommentatoren ziehen Vergleiche, zum Antijudaismus der Nazis, ohne das offensichtlich jemandem die Absurdität solcher Vergleiche in den Kopf kommt. Es ist ein durchaus einfacher psychologischer Abwehrreflex, jeden und alles in Deutschland zum Nazi zu erklären außer den wirklichen Nazis, die meine Generation wenigstens noch als Familienmitglieder, Lehrer und Nachbarn kennen lernen konnte. Und so wird jeder Diktator zum Hitler stilisiert und jeder, der dumme, antijüdische Äußerungen von sich gibt, zum neuen Nazi.

Ich sehe, die täglichen Angriffe der israelischen Armee auf Gaza und ich sehe und lese über die Opfer, die zum großen Teil Zivilisten sind. Unter ihnen Frauen und Kinder, die nichts mit dem Konflikt zu tun haben außer der Tatsache, am „falschen“ Ort der Welt gelebt zu haben.

In einem Internetkommentar las ich „Nicht alle Palästinenser sind Mitglied der Hamas“. Ich schrieb darunter „Richtig! Ich kenne auch einen, der Mitglied beim ADAC ist“. Zwei Stunden später war eine palästinensische Familie mit deutscher Staatsangehörigkeit ausgelöscht. Wurde angesichts dieser Ungeheuerlichkeit der israelische Botschafter einbestellt oder wenigstens aus Protest eine Sekretärin der Botschaft ausgewiesen? Ich glaube nicht!

Stattdessen große Aufregung über die arabischen Jugendlichen mit ihren Parolen.

Als Lehrer in Neukölln ist mir das alles nichts Neues. Unter den Demonstranten dürften viele meiner jetzigen und ehemaligen Schüler sein. Sie sind mir nicht fremd, auch nicht ihr Antijudaismus. Fast wöchentlich habe ich darüber Diskussionen mit ihnen. Und ich habe durchaus Verständnis für sie. Nicht dass ich ihre Äußerungen akzeptabel finde. Aber es sind meine Schüler und ich kenne ihre Lebenswirklichkeit und ich bemühe mich, sie zu verstehen und ihnen weiter zu helfen, in dem ich ihnen etwa von Ahmet Talib erzähle, der die Organe seines von Israelis erschossenen Sohnes israelischen Kindern spendete und der nach meiner Meinung den Friedensnobelpreis tausend mal mehr verdient hat, als Barak Obama. Solches Verständnis wünschte ich mir auch von den Reportern und Kommentatoren, die bereitwillig die Kameras auf die wütende Menge richten. Denn wir brauchen nicht einen „Sensationsjournalismus“ und scheinheilige Empörung, sondern Empathie und intelligente Analyse, um zu verstehen, was diese Jugendlichen uns sagen wollen.

Ich sehe die Dinge vielleicht anders, weil ich meine fünf- und sechsjährigen arabischen Schülerinnen und Schüler sehe und sehe, wie sie langsam zu Jugendlichen heranwachsen. Ich sehe die Dinge schließlich auch anders, weil ich hier in Sarajevo bin, einer Stadt, die vier Jahre belagert war. Ich habe täglich die Gräberfelder vor Augen, wo viele Menschen meiner Generation liegen, die auch nur deshalb sterben mussten, weil sie Moslems waren und zufällig am „falschen“ Ort lebten, als der Krieg hier los ging. Noch vor einer Woche besuchte ich den „Tunnel des Lebens“, den die Bosnier unter der Landebahn des Flughafens gruben, um in die belagerte Stadt Essen und Waffen zu schaffen und durch den auch meine Frau mit ihrem kranken Sohn damals entkommen konnte. Ich sehe die zerstörten Tunnel der Palästinenser und frage mich, wo ist der Unterschied?

Ich mag auf keinen Fall die Hamas, denn ich weiß, dass diese Leute mir als Atheisten sofort den Hals abschneiden würden, wenn sie könnten. Aber ich verstehe auch, dass Menschen, wenn sie unter extremen Bedingungen wie im Gazastreifen leben, zu extremen Ideologien greifen. Denn was bleibt Vätern und Müttern, die sehen, wie ihre Kinder keine Lebenschancen haben, ja die von Bomben zerfetzt werden, als „Allah hu akbar“ zu schreien und wenigstens auf eine himmlische Gerechtigkeit zu hoffen, wenn es schon keine irdische gibt?

Doch zurück zu den arabischen Jugendlichen in Deutschland. Wer interessiert sich eigentlich für sie, wenn es nicht gerade um Sensationen geht? Fernsehteams, die etwa nach Neukölln gehen um über Gewalt an den Schulen, Drogen und Antijudaismus zu berichten, haben einen leichten Job. Sie brauchen nicht lange zu suchen um die entsprechenden Kandidaten für die gewünschten Äußerungen vor die Linse zu bekommen. So produziert man Feindbilder ohne zu zeigen, dass es „unsere“ Schüler sind und „wir“ offensichtlich an ihnen versagen und nicht umgekehrt.

Nicht wenige Eltern meiner Schüler waren im Krieg und sind eigentlich traumatisiert. Diese Familien kamen hierher um ihren Kinder ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie wollen, wie alle Eltern nicht, dass ihre Kinder gewalttätig, drogenabhängig oder extremistisch werden. Doch für nur wenige erfüllt sich dieser Traum. Denn das deutsche Gesellschaftssystem braucht für seinen strukturellen Rassismus keine Mauern und Parolen. Stellte man vor siebzig Jahren in Deutschland noch Schilder auf, auf denen stand, dass „Juden unerwünscht“ seien, so ist die Diskriminierung heute fast unsichtbar. Und dennoch gibt es in Berlin Schulen, auf denen fast nur noch Kinder von Immigranten sind, während es keine drei Kilometer weiter Schulen gibt, wo es pro Klasse höchstens zwei oder drei Immigrantenkinder gibt. In Kreuzberg-Friedrichshain etwa bildet die Spree diese unausgesprochene Grenze. Wer im Wrangel-Kiez geboren wird, wächst in einer völlig anderen Welt auf, als die Altersgenossen am Comeniusplatz. Gerade einmal ein Kilometer Luftlinie liegt zwischen diesen beiden Orten!

Kinder sind nun keineswegs dumm und sie haben ein sehr feines Gespür für ihre Situation. Und die Kinder bestimmter Einwanderergruppen merken sehr früh, wie es um ihre Situation steht. Sie spüren die Ablehnung oder zumindest die Ignoranz der „weißen Mittelschicht“, auf die das öffentliche Schulsystem ja zugeschnitten ist. Es würde keinen Sinn machen, den Bediensteten dieser Schulen Rassismus vorzuwerfen. Denn die wenigsten Lehrer sind nach meiner Erfahrung offen rassistisch. Vielmehr sind die Lehrkräfte genau so überfordert, wie die Kinder und ihre Familien. Denn wo hat je jemand gelernt, wie man in einer interkulturellen Situation lebt und arbeitet? Lehrkräfte sind gehalten einen Lehrplan abzuarbeiten und haben weder die Erfahrung noch die Zeit, sich mit der Lebenssituation ihrer Schüler zu beschäftigen. Und so kommt es zu jenem täglichen Kleinkrieg in den Klassenräumen, der alle Beteiligten mehr oder weniger krank macht.

Was Schüler aus Migrantenfamilien dabei sehr früh lernen ist die Tatsache, dass sie letztlich keine Chance haben. Sie wachsen auf mit den täglichen Bildern des Krieges in Gebieten, wo noch ein Teil ihrer Familien lebt. Sie hören, wie die Bundesregierung wenig oder nichts tut, um etwa das Flüchtlingselend in Syrien zu mildern. Sie erleben, wie ihre Eltern oder sie selbst auf der Ausländerbehörde um ihren Aufenthalt kämpfen müssen oder wie ihre Eltern ihr gesamtes Einkommen aufwenden, um Familienangehörige auf der Flucht zu unterstützen. Und vor allem die Jungen lernen schnell, dass der einzige Weg, sich Respekt zu verschaffen der ist, wenn man keine Gefühle zeigt, schnell zuschlägt und ansonsten mit markigen Sprüchen den starken Mann markiert.

Und natürlich lernen diese Kinder schnell, wo „unsere“ wunden Punkte sind, also jene Punkte, wo es bei „uns“ nicht stimmt und wo man provozieren kann. Wer etwa selbst einmal ein pubertierender Jugendlicher war und dies nicht völlig verdrängt hat, dem dürfte dieser Mechanismus nicht unbekannt sein.

In Deutschland, wo seit Jahren alle Studien der deutschen Mehrheitsgesellschaft einen anhaltend hohen Grad an vor allem latenten Antijudaismus und Rassismus bescheinigen, brauch man sich nicht zu wundern, wenn Jugendliche - egal ob deutsche Neonazis oder palästinensische Jugendlich - diesen wunden Punkt finden und genau dort provozieren, um ihrer Wut über die eigenen Lebensumstände Ausdruck zu verleihen und gegen den Wahnsinn des Krieges zu protestieren, dem ihre Familien ausgesetzt sind. Diese Jugendlichen halten der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik den Spiegel vor!

Wären nicht große Teile der Mehrheitsgesellschaft selbst latent antijüdisch und rassistisch eingestellt, würde die deutsche Regierung nicht direkt und indirekt Israels falsche und verbrecherische Politik unterstützen, gäbe es diese Äußerungen nicht. Solange Deutschland aber – aus welchen Gründen auch immer – Israels Umgang mit den Palästinensern sowohl in Israel selbst, als auch in den besetzten und belagerten Gebieten, unterstützt, und gleichzeitig die hier lebenden Einwanderer subtil ausgrenzt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass ein Grossteil der arabischen Jugendlichen in Deutschland, diese Staatsraison als pure Doppelmoral empfinden und auf Distanz geht.

Der Verfasser arbeitet als Lebenskundelehrer in Nord-Neukölln

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Geschrieben von

Saltadoros

Olaf Schäfer: Pädagoge, Musiker...

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