Türkei-Europa. Ein abgekartetes Spiel!

Autoritäre Herrschaft Auftrieb für autoritäre Herrschaftsformen. Erdoğan, Geert Wilders und Marine Le Pen sind nicht die Einzigen, die sich gerade vor Freude die Hände reiben dürften

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Türkei-Europa. Ein abgekartetes Spiel!

Foto: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Die Niederlande zeigen Härte und verhinderten einen Auftritt der türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya. Sie stoppten ihre Fahrzeugkolonne, verhinderten ihren Besuch der türkischen Botschaft und geleiteten sie schließlich über die Grenze. Dies ist ein neuer Tiefpunkt in den Beziehungen der Türkei zu Europa und was nun folgte, war durchaus voraussehbar, wie vermutlich erwünscht. Zum einen, dass sich Erdoğan und seine Genossen erneut aufblasen wie die Marktschreier und Europa faschistische Methoden vorwerfen, zum anderen, dass die hier lebenden Fans von Erdoğan sich bemüßigt fühlen ihren „Führer“ beizuspringen und türkische Fähnchen schwenkend in europäischen Städten auf die Straßen zu gehen.

Es gibt zwei Gewinner in diesem Spiel. Zum einen ist es Erdoğan selbst. Dieser versteht es bestens, jene Kreise in der Türkei und in Europa anzusprechen, die seit Generationen zu den Verlierern gehören. Es sind die wenig gebildeten und stark religiös orientierten Türken, die seit der Gründung der modernen Türkei durch Attatürk unterdrückt wurden.

Der Gründungsmythos der Türkei ist hierbei das eigentliche Problem. Attatürks Staatsideologie hatte verschiedene Aspekte, die bis heute nachwirken. Nach dem Zerfall des multiethnischen Osmanischen Reiches nach dem ersten Weltkrieg stand der Staatsgründer vor der Aufgabe, das Kernland, die heutige Türkei, zum einen von der Besatzung der Alliierten zu befreien. Zum anderen orientierte sich Attatürk stark am westlichen Staatenmodell, welches jedoch weder zu der ethnischen Situation, noch zur religiösen und kulturellen Tradition eines großen Teils der Staatsbevölkerung passte. Attatürk versuchte diesen Widerspruch autoritär und mit Gewalt zu unterdrücken. Etwa indem er die Macht der Religiösen mit brutaler Härte unterdrückte, Aufstände blutig niederschlagen ließ, wie beispielsweise 1930 in Menemen (türk. Menemen Olayı). Ebenso schlug Attatürk ethnische Aufstände der Kurden blutig nieder. Wenig bekannt ist bei uns etwa die blutige Niederschlagung des Dersim-Aufstands, bei dem über 10.000 Mennschen getötet wurden. Auch kaum bekannt ist , dass die türkische Luftwaffe damals Aufständige und Zivilisten gleichermaßen bombardieren ließ und dabei auch Giftgas einsetzte. Attatürks Adoptivtochter, die wahrscheinlich ein armenisches Waisenkind war - die Kampfpilotin Sabiha Gökçen - beteiligte sich an diesem Bombardement, welches von vielen als Genozid gewertet wird. Heute ist der Flughaften im anatolischen Teil Istanbuld nach ihr benannt.

Attatürks Verwestlichungsmaßnahmen fanden Eingang in die Weltliteratur. Im „Kleinen Prinz“ skizziert Antoine de Saint-Exupéry die Maßnahmen:

Ich habe ernsthafte Gründe zu glauben, dass der Planet, von dem der kleine Prinz kam, der Asteroid B 612 ist. Dieser Planet ist nur ein einziges Mal im Jahre 1909 von einem türkischen Astronomen im Fernrohr gesehen worden. Er hatte damals beim internationalen Astronomenkongress einen großen Vortrag über seine Entdeckung gehalten. Aber niemand hatte ihm geglaubt, und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen. Die großen Leute sind so. Zum Glück für den Ruf des Planeten B 612 befahl ein türkischer Diktator seinem Volk bei Todesstrafe, nur noch europäische Kleider zu tragen. Der Astronom wiederholte seinen Vortrag im Jahr 1920 in einem sehr eleganten Anzug. Und diesmal gaben sie ihm alle recht.

Bei Todesstrafe wurde nicht nur türkische Kleidung wie beispielsweise der Fez verboten. Auch Volksmusik etwa war verboten1. Der Türkische Rundfunk, spielte in den Anfangsjahren nur Opern und Operetten, was dazu führte, dass viele Menschen auf die Sender arabischer Nachbarn auswichen. Das hat bis heute Folgen für den türkischen Musikgeschmack.

Der Rollback in Richtung islamische Republik ist freilich keine Erfindung Recep Tayyip Erdoğans, auch wenn er sich selbst zu deren Hauptprotagonisten stilisiert. Die Tendenz wurde lange vor Erdoğan angelegt. Schon nach dem Putsch von General Evren, Mitte der achtziger Jahre, begann man mit der Verstärkung der finanziellen Ausstattung der türkischen Religionsbehörde (türk. Diyanet İşleri Başkanlığı). Moscheen wurden gebaut und schossen wie die Pilze in jedem Stadtviertel aus dem Boden. Und natürlich brauchen diese Moscheen auch Personal, welches direkt vom türkischen Staat bezahlt wurde.2 Diese Religionsbehörde finanzierte jedoch nur die sunnitische Variante des Islam. Aleviten etwa mussten ihre Cem-Häuser selbst finanzieren. Welche Probleme die kleinen christlichen Minderheiten wie Armenier oder die Griechisch- oder Syrisch-Orthodoxe hatten, lässt sich nachlesen.

Erdoğan ist damit nun der Schlusspunkt einer langen Entwicklung, der man im Westen viel zu lange zugesehen hat und die man sogar noch unterstützte, indem man hierzulande etwa die türkische Religionsbehörde förderte und ihr beispielsweise Einfluss auf den Religionsunterricht an deutschen Schulen gewährte.

Aus all diesen Gründen ist die die offizielle Empörung über die türkische Führung, die jetzt in Europa vielstimmig zu hören ist, nicht wirklich ernst zu nehmen. Hier waren etwa Kanzler Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher noch etwas logischer. Nachdem sie zuvor die Ausrüstung der halben NVA an die türkische Armee verhökert hatten und die Türkei diese Waffen, etwa den NVA-Radpanzer vom Typ BTR 60, vertragswiedrig im Kurdengebiet eingesetzt hatten, verhängten sie ein Waffenembargo gegen die Türkei. Die Reaktionen der damaligen politischen Führung unterschieden sich übrigens kaum von heute.3

Von solchen Reaktionen ist man zur Zeit weit entfernt. Vielmehr hilft Deutschland dabei, die türkischen Despoten weiter aufzurüsten. So plant etwa Rheinmetall den Export einer ganzen Panzerfabrik.4

Dieses steht von offizieller Seite nicht in Frage. Man begnügt sich vielmehr mit Symbolpolitik. Ob nun die Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya in den Niederlanden spricht oder sonst ein türkische Politiker in Europa, das wird nicht Wesentlich sein. Auf solcherlei Propaganda könnte man hervorragend reagieren, wobei die Satire die beste Möglichkeit wäre das aufgeblasene Geschwätz dieser Leute zu persiflieren.

Vielmehr müssen wir uns fragen lassen, was in unseren Schulen und überhaupt in unserer Gesellschaft falsch gelaufen ist, wenn so viele Türken der dritten Einwanderergeneration diesen Rattenfängern auf den Leim gehen. Diese Symptome sind alles Defizite unserer Gesellschaft! Türkische Politiker setzen lediglich bei den Defiziten dieser Leute an und bedient sich derer Komplexe, in dem sie ihnen vermeintlich Teilhabe am "großartigen Türkentum" und ihrem autoritären Führer suggeriert.

Und schließlich wird der zweite große Gewinner der rechte Rand unserer Gesellschaft werden. Es ist abzusehen, dass der türkische Mob sich aufstacheln lässt und auch in Europa auf die Straßen ziehen wird. Es steht durchaus zu befürchten, dass die Proteste nicht friedlich bleiben werden. Wie so etwas aussieht haben in den neunziger Jahren nach den Brandanschlägen in Solingen die gewalttätigen Proteste türkischer Jugendlicher im Ruhrgebiet gezeigt.5

Spätestens wenn es zu solchen Szenen kommt, werden wieder autoritäre und repressive Maßnahmen in Europa diskutiert werden. Das wird einigen Kräften gerade recht kommen, die nicht auf Integration, sondern auf Spaltung der Gesellschaft setzten, bei gleichzeitiger autoritärer Staatsführung. Erdoğan, Geert Wilders und Marine Le Pen sind nicht die Einzigen, die sich gerade vor Freude die Hände reiben dürften.

Die Demokratie ist damit keinesfalls nur in der Türkei in Gefahr!

1Unter dem Titel „Werde glücklich, das ist ein Befehl“ gibt es einen kurzen Film, der sich über diesen Umstand lustig macht: https://www.youtube.com/watch?v=Qbbp8ac8ROQ

2Das Diyanet İşleri Başkanlığı (deutsch Präsidium für Religionsangelegenheiten), abgekürzt mit Diyanet, ist eine staatliche Einrichtung zur Verwaltung religiöser Angelegenheiten in der Türkei. Das Diyanet ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. Die Behörde hatte im Jahre 2015 mehr als 100.000 Mitarbeiter und einen Jahresetat von umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro. Quelle, Wikipedia.

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Geschrieben von

Saltadoros

Olaf Schäfer: Pädagoge, Musiker...

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