Wir sind die Guten!

Je suis Charlie: Aufklärung und grenzenlose Freiheit

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„Sag nicht alles, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst.“
Matthias Claudius

Plötzlich sind alle Charlie. Natürlich auf Französisch. „Ich bin Karl“ hört sich ja auch wirklich etwas doof an, es sei denn, Marx hätte es gesagt. Nie war es so billig, sich auf die Seite der Guten zu stellen. Und da stehen sie alle, von Merkel über Sarkozy bis zu den Leuten von PEGIDA und sind Charlie. Ja, ja, das Attentat auf die Zeitung sei ein Attentat auf die Presse- und Meinungsfreiheit aller Menschen. Das ist natürlich maßlos übertrieben. Denn die meisten Menschen haben gar keine Meinung, sie meinen nur, dass sie eine haben und pflegen ansonsten ihre Vorurteile.

Warum lässt man die Moschee nicht im Dorf, und sagt, was der Anschlag war: Einfach ein Verbrechen, ausgeführt von Verbrechern. Ist es wirklich so interessant zu wissen, ob solche Taten nach dem Koran oder der Scharia legitimiert sind? Natürlich sind sie es! Wer lang genug in Bücher guckt wird schon was finden. Bibel, Koran und Thora sind so. Wozu gibt es denn schließlich das alte Testament, welches allen drei Religionen zugrunde liegt?

Aber natürlich haben wir Abendländer kollektiv die Aufklärung erfunden. Die Schriften Imanuel Kants werden bei uns schon im Kindergarten gelehrt und überhaupt sind wir viel netter und besser angezogen, als diese bärtigen Typen und ihre zugehängten Frauen. Bei uns tragen Frauen als Ausdruck ihrer Emanzipation Leggins und High Heels und da wir ja auch alle gemeinsam die sexuelle Revolution hinter uns gebracht haben, gibt es den Flat-Rate-Puff oder für die Ärmeren rumänische Hilfsarbeiterinnen vom Bordstein.

Es ist alles so verlogen, dass mir schlecht ist. Schlecht von der Heuchelei, schlecht von der Bigotterie und schlecht von den großen Verbrechern, die ungeniert Kriege anfangen, ganze Länder verwüsten lassen, Millionen von Menschen in Chaos und Armut zurücklassen und sich frisch rasiert vor die Mikrophone stellen, die ihnen die willfährigen „freie Journalisten“ unter die Nase halten und plötzlich von Menschenrechten, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit reden.

Die Satirezeitschrift „Titanic“ durfte mehrfach erfahren, wie weit es mit der Pressefreiheit ist, wenn sie religiöse Tabus verletzte. Das Bild “Ich war eine Dose“ von 1987 etwa, das eine Reklame der Dosenindustrie imitierte und einen gekreuzigten Jesus aus Blech zeigte wurde genau so juristisch angefochten, wie 2012 die Satire über „Vatileaks“, als Benedikt XVI. mit einem gelben Fleck auf der Soutane abgebildet wurde. Hier war es sogar der „heilige Vater“ persönlich, der sich in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt fühlte und klagte. Die Liste ließe sich verlängern und kann hier besichtigt werden: http://www.zensur-archiv.de/index.php?title=Satire#

Nein, natürlich wurde seit 1945 in Deutschland niemand mehr wegen einer Satire oder eines Witzes erschossen! Wir sind da durchaus auf einem guten Weg. Aber dass es vor gar nicht so langer Zeit anders war, haben wohl viele vergessen, die sich plötzlich an der Spitze des „aufgeklärten Abendlandes“ wähnen. Man kann es aber gerne bei Hans-Jochen-Gamm im „Flüsterwitz im dritten Reich“ nachlesen oder Insassen von DDR-Gefängnissen befragen. Und natürlich sind alle, die jetzt so wohlfeil auf die Straße gehen, verkappte Satiriker und Witzbolde und auf jeden Fall Helden, die täglich für die Meinungsfreiheit eintreten. Wann haben Sie eigentlich den letzten Witz über die Regierung oder über die beiden christlichen Kirchen gerissen, möchte ich fragen!

Die ganze Verlogenheit sieht man auch an scheinheiligen Politikern, die gleich wieder die Vorratsdatenspeicherung fordern und natürlich ansonsten zu den Abhörskandalen etwa der NSA schweigen. Wo kann denn jemand frei seine Meinung äußern, wenn er weiß, dass immer jemand mithört? Nein, diese Leute machen lieber gemeinsame Sache mit der NSA und überlassen Eduard Snowden Putin, anstatt ihm dankbar zu sein und ihm Asyl zu gewähren. Ansonsten schweigen sie über die Dinge, die unsere Meinungsfreiheit mehr gefährden, als Terroristen mit Kalaschnikows.

Irgendwie riecht das alles nach abgekartetem Spiel! Man muss schon sehr dumm sein, wenn man meint, dass man Mohammed malen und in einer Satire verwursten darf, ohne dass das in der muslimischen Welt brutalste Reaktionen hervorruft.

Sie meinen Fanatiker gibt es nur bei den Moslems? Nun, bei uns ist der Fanatiker längst zum „Fan“ mutiert. Und wenn sie meinen, die Meinungsfreiheit sei das Wichtigste und müsse unter allen Umständen überall verteidigt werden, dann à la bonne heure! Testen Sie es doch mal aus und stellen Sie sich bei einem beliebigen Fußballspiel mit der Fahne des Gegners in einen Ultra-Block. Falls Sie das überleben wissen Sie wenigstens nachher, wozu die Einlasskontrollen im Stadion gut sind und dass man besser eben nicht immer alles sagt.

Man bringt es selbst kleinen Kindern bei, dass man nicht immer alles sagen darf, auch wenn es die Wahrheit ist. Auch dass gehört zur Zivilisation! Als einziger Atheist in einem westdeutschen Dorf wusste ich schon Ende der sechziger Jahre, was ich besser nicht sagte, weil es sonst „Dresche“ gab.

Auch die Redaktion von Charlie Hebdo wusste, was sie tat und welche Folgen das haben würde. Schon 2012 hatte die Zeitschrift Mohammed-Karikaturen veröffentlicht. Bei den folgenden Protesten wurden mindestens 15 Menschen getötet, darunter der US-Botschafter in Libyen. Das entschuldigt nicht die Taten, aber eine realistische Risikobewertung gehört schon dazu, wenn man provoziert.

Zuletzt ekeln mich aber auch jene Imame und Vertreter der islamischen Gemeinden an, die vor die Mikrophone treten, und sagen, all dies hätte mit dem Islam nichts zu tun. Die gleichen Leute, die dafür sorgen, dass in ihren Koranschulen den Kindern mit der Hölle gedroht wird, wenn sie „Sünden“ begehen und die die Gehirne ganzer Generationen gewaschen haben, um ihr intolerantes Religionsverständnis zu vermitteln, sollen doch nicht so tun, als fänden sie plötzlich die Karikaturen von Charlie Hebdo irgendwie akzeptabel. Diesen Leuten glaube ich nichts! Diese Sorte hat kein Interesse an einer fortschrittlichen Weltsicht ihrer Gemeindemitglieder, die sie gerne in Dummheit und Unmündigkeit hält um sie für ihre meist politischen Interessen manipulieren zu können.

Es fehlen heute Menschen, wie der türkische Satiriker Azis Nesin. Menschen, die glaubhaft den Islam kritisierten, weil sie selbst aus diesem Kulturraum stammten. Es fehlen Menschen, die kritisieren und gleichzeitig einen respektvollen Umgang mit den Muslimen pflegen, Menschen, die versöhnen und nicht spalten. Es fehlen Menschen, die den Scharfmachern und Provokateuren jeder Couleur den Spiegel vorhalten. Am besten den satirischen Spiegel!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Saltadoros

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