Eine paradoxe Gleichung

Diskurs Amnesty International wirft Israel „Apartheid“ vor. Was die deutsche Debatte darüber zeigt
Ausgabe 07/2022

Kognitive Dissonanz – das meint einen Gefühlszustand, bei dem unvereinbare Wahrnehmungen, Gedanken und Wünsche einen Unwohlzustand auslösen. Die (Nicht-) Wahrnehmung des neuen Amnesty-International-Berichts Israel’s apartheid against Palestinians in deutschen Medien könnte als Schulfall dieses Phänomens in die Forschungsliteratur eingehen. Was ist passiert? Der Bericht stellt nüchtern fest, dass und wie ein Staat, der sich nicht als Staat aller seiner Einwohnerinnen, sondern exklusiv als Staat einer bestimmten staatlich definierten Bevölkerungsgruppe versteht, alles daransetzt, den unerwünschten Bevölkerungsanteil mit unterschiedlichen Mitteln zu dominieren, zu entrechten, zu reduzieren, zu vertreiben, einzusperren und im Extremfall zu töten.

Sobald die zionistische Besiedelung Palästinas historisch mit dem Ziel eines jüdischen oder jüdisch dominierten Staates einherging, wurde die Anwesenheit nichtjüdischer Palästinenserinnen zum Problem. Seither versucht der Staat Israel, diese Einwohnerinnen des beanspruchten Gebiets loszuwerden oder wenigsten ihre Widerstandshandlungen zu delegitimieren.

Mit Blick auf israelisches Staatshandeln mag man nun einwenden, dass bisher jede Staatsgründung ähnlich verlief, und daran erinnern, dass jeder Staat im Kern ein verrechtlichtes Gewaltverhältnis darstellt. Wie aber Staaten und Gesellschaften die ursprüngliche Gewalt ihres Gründungsakts und deren Institutionalisierung politisch aushandeln, ist verschieden. Doch selten gelingt es staatlichen Akteurinnen und der von ihnen repräsentierten Mehrheitsgesellschaft, solch ein Gewaltverhältnis dauerhaft als moralisches Unterfangen auszugeben.

Israels Maßnahmen gegen die Palästinenserinnen

In den meisten Kommentaren in Deutschland geht es daher nur vordergründig um die Definitionsfrage, ob Israels Maßnahmen gegen die Palästinenserinnen auf dem Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss dem völkerrechtlichen Tatbestand der Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit entsprechen. Die Existenz dieser Maßnahmen – seien es Landnahme, Enteignung, unrechtmäßige Tötungen, Vertreibungen, Bewegungseinschränkungen und ein abgestuftes System von rechtlichen Benachteiligungen – lässt sich nicht leugnen. Dennoch gehen die Meinungen um die historisch-moralische Legitimität dieser Maßnahmen auseinander. Diejenigen, die nun Einseitigkeit, Unsachlichkeit, Propaganda oder gar Antisemitismus als Triebfedern des Berichts vermuten, brauchen sich mit den aufgelisteten Maßnahmen nicht weiter beschäftigen. Sie sind sich sicher, dass all die seit Jahren bekannten Tatbestände, die der Amnesty-Bericht nun noch einmal auflistet, auf einer größeren Waage historisch-moralischer Gerechtigkeit aufgewogen und für zu leicht befunden werden können.

Das Credo des antipalästinensischen Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist schuldökonomisch so schlicht wie einleuchtend: Der Staat, der im Namen der im deutschen Namen Ermordeten zu sprechen beansprucht, kann doch selbst kein Unrechtsstaat sein. Anderenfalls könnte es nämlich sein, dass die oftmals belehrend vorgetragene Entschuldungsrechnung der Nachfahren der Deutschen von 1933 bis 1945 nicht aufgeht. Doch Opfer können auch Täter werden und umgekehrt, manchmal sind sie sogar beides im gleichen Geschichtsraum. Trotzdem besteht keine Symmetrie zwischen beiden. Zudem gehören die Idee reiner Opfer- und Täteridentitäten und die Denkgewohnheit, Menschen und ihre Taten zu Kollektividentitäten zusammenzufassen und gegeneinander abstrakt aufzurechnen, zu den problematischsten Hinterlassenschaften des Zeitalters der Nationalstaaten. Es gibt keinen Maßstab der Verrechnung, der solche Verbrechen in ein gerechtes Verhältnis setzen könnte. Die Rechtfertigung des einen Unrechts mit einem anderen führt zu einer abstrakten Gleichnamigkeit völlig unterschiedlicher Taten und Menschen – und zur Entmenschlichung der Opfer des „geringeren“ Unrechts. Sobald es einem ethno-national definierten Staatsprojekt gelingt, sich glaubhaft als Vertreter und Nachfolger eines singulären Opferkollektivs zu definieren, erscheinen Widerstandshandlungen der Besiegten als uneinsichtig, terroristisch oder, wie bei Palästina, als antisemitisch.

In dieser Metaerzählung erscheint noch jedes Verbrechen an Palästinenserinnen wenn nicht auf höherer Ebene gerechtfertigt, so doch historisch-moralisch perspektiviert und grundsätzlich aufrechenbar: Die Vertreibung der Palästinenserinnen im Zuge der israelischen Staatsgründung lässt sich gegen die illegitimen Maßnahmen arabischer Regierungen gegen ihre jüdischen Minderheiten aufrechnen; die Aufrechterhaltung eines menschenverachtenden Besetzungsregimes lässt sich durch die singuläre Opfererfahrung der staatlich bestellten Täterinnen oder ihrer Vorfahren in ein Verhältnis setzen; und der gewalttätige wie der gewaltlose Widerstand gegen Kolonisierung lassen sich gegen das Faktum der Kolonisierung selbst aufwiegen. So ergeben sich aus deutscher und liberalzionistischer Sicht die „beiden Seiten“ des Konflikts. Dies unterschlägt aber das Gewaltverhältnis, das in diesen Rechnungen, Rationalisierungen, Identifikationen und Abstraktionen steckt.

Unvergleichbarkeit als Einsatz

Gründungsfiguren des Rechtszionismus wie Ze’ev Jabotinsky waren da ehrlicher. Ihnen war klar, dass die Kolonisierung des britischen Mandatsgebiets Palästina nicht auf die friedvolle Akzeptanz der nichtjüdischen Bevölkerung setzen konnte. Eine Besiedlung müsse gegen den Widerstand der ansässigen Bevölkerung durchgesetzt werden.

Diese realistische Einschätzung, die die moralische Integrität der unterlegenen Gegnerinnen noch anerkannte, konnte sich als Siegererzählung letztlich nicht durchsetzen. Heute geht es im Kampf um die Anerkennung legitimer Gewaltverhältnisse um den Status moralisch unbefleckter Opferkollektive. Es reicht daher nicht, dass der palästinensische Kampf für Selbstbestimmung und ein Ende von Apartheid und Besatzung historisch unterlegen ist; er muss auch kriminalisiert, delegitimiert und als aggressive Täterhandlung – Terrorismus, „Israelhass“ und Antisemitismus – markiert werden. Dies gelingt aber nur durch historisch-moralische Aufrechnung.

Die „Anti-Antisemiten“, deren wichtigstes Betätigungsfeld in der Umdeutung von Antizionismus in Antisemitismus besteht, wissen sich hier im Recht. Denn sie glauben im Namen der Opfer des Holocaust und aller von Antisemitismus Betroffenen sprechen zu können, wenn sie die im Bericht aufgelisteten Taten relativieren. Sie arbeiten dabei mit einer paradoxen Gleichung, die Unvergleichbarkeit als Einsatz spielt. Die Rede von der historisch unvergleichbaren Singularität des Holocaust ist das schwerste Gewicht auf dieser imaginierten Waage historischen Unrechts. In diesem Spiegelsaal kollektiver Wunschvorstellungen und historisch-moralischer Identifikationen ist für Palästinenserinnen kein Platz. Vielleicht gehört ihr Kampf auch gar nicht dorthin. Vielleicht lässt sich die palästinensische Katastrophe, die Nakba, überhaupt nicht in ein solches Kaleidoskop historischer Schuldökonomien und moralisierender Entlastungserzählungen eintragen. Doch wo kein Platz möglich ist, gerät die Logik des ganzen Platzes ins Wanken. Vielleicht ist es dieses Wanken, das sich in der Unstimmigkeit, dem kognitiv Dissonanten, des Berichts auf unbequeme Weise Gehör verschafft. Denn auch hier gilt: Jeder Bericht findet seine Adressaten.

Sami Khatib, Mitbegründer des Beirut Institute for Critical Analysis and Research, lehrt an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe

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