Mutter aller Konkurrentinnen

Sportplatz Kolumne

Manch ein Klischee stimmt. Seit Olga Korbut und Nadia Comaneci vor über dreißig Jahren die Welt von Schwebebalken und Stufenbarren eroberten, sind Turnerinnen klein, leicht und jung. Das trifft etwa auf die aktuelle Welt- und nun auch Europameisterin Vanessa Ferrari aus Italien zu: 1 Meter 43 groß, 36 Kilogramm schwer, geboren im November 1990. Auch Oksana Tschussowitina ist klein und leicht, aber ansonsten eine Ausnahme. Im Jahre 1991, als ihre heutige Teamkollegin Anja Brinker zur Welt kam, gewann sie ihre erste Medaille. Gold für die UdSSR bei der Weltmeisterschaft in Indianapolis. Man darf bezweifeln, ob die aktuellen Konkurrentinnen noch wissen, wofür UdSSR steht oder gar GUS. Im Team der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten holte Tschussowitina bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona Mannschafts-Gold, es folgten weitere Gold-, Silber- und Bronzeplaketten bei Welttitelkämpfen. Ob sie wisse, wie viele Medaillen sie insgesamt gewonnen habe, wurde Tschussowitina vor zwei Wochen bei ihrer ersten Europameisterschaftsteilnahme gefragt: "Nein, keine Ahnung. Ich habe sie nie gezählt." Und ihr Blick sagte dabei: Was für eine seltsame Frage! Gezählt haben andere, über ein Dutzend Mal hat Tschussowitina auf dem Treppchen gestanden, aber als Usbekin, eben nie bei einer Europameisterschaft. In ihrer Heimat zierte ihr Konterfei im Jahre 2001 eine Briefmarke zum 10. Jahrestag der staatlichen Unabhängigkeit zierte.

Oksana Tschussowitinas Karriere ist die längste in der Geschichte des modernen Kunstturnens der Frauen. Als Sechsjährige begann die 1975 in Bukhara Geborene mit dem Training in Taschkent und hat bislang nicht damit aufgehört. Schon bei Olympia 1996 in Atlanta wurde Tschussowitina, damals gerade 21, als Grande Dame des Turnens wegen ihres hohen Alters bewundert. In dem Alter turnen Frauen normalerweise nicht mehr. Und so nahm auch Tschussowitina erst mal Abschied vom Sport der jungen Mädchen, heiratete den Ringer Bakhodir Kurpanov und wurde Mutter. Im Jahr 2000 bei den Spielen in Sydney feierte sie dann die unvorstellbare Rückkehr in den Leistungssport und bald auch ihre nächste Medaille.

2002 erkrankte ihr damals dreijähriger Sohn Alisher an Leukämie, und die internationale Szene machte der Legende von der Turnfamilie alle Ehre. In verschiedenen Ländern der Welt wurden Spendenkonten eingerichtet, deutsche Turnvereine, ein usbekischer Fanclub in San Francisco und der Internationale Verband bemühten sich, für den Jungen die bestmögliche Behandlung zu organisieren. Tschussowitina, die bereits seit Jahren für TTT Köln in der Bundesliga startete, wählte die dortige Uni-Klinik zur Behandlung aus. Sie zog an den Rhein, lebte im Schwesternheim der Klinik und übte ihre Schrauben und Salti fortan bei der weißrussischen Trainerin Shanna Poljakova. Was sollte sie auch anderes tun. Auf ihre Situation angesprochen, sagte sie damals: "Ich muss weiterturnen, für Alisher", und tatsächlich finanzierte sie mit den mageren Prämien des Turnsports die Behandlung ihres Sohnes mit.

Ein Jahr später kam dem Deutschen Turner-Bund eine Idee. Könnte die erfolgreiche Usbekin nicht das eigene Team zu den Olympischen Spielen in Athen führen? Seit 1992 hatte sich keine deutsche Frauenriege mehr für Olympia qualifiziert, und im Vorfeld der entscheidenden Weltmeisterschaft sah es nicht so aus, als ob sich daran etwas ändern sollte. Allerdings scheiterte der Versuch, Tschussowitina einzubürgern, ebenso wie die Qualifikation der Deutschen für Olympia; die Usbekin gewann wieder eine Medaille für Usbekistan. Im Frühjahr 2006 beschloss Tschussowitina, mit dem mittlerweile geheilten Alisher in Köln zu bleiben und beantragte die Einbürgerung. Die deutsche Bürokratie brauchte ihre Zeit, der allseits ersehnte Personalausweis kam erst einige Tage vor Abreise zur Weltmeisterschaft in Aarhus - nach Interventionen schließlich doch aufgrund "sportlicher Dringlichkeit". Während ihr Sohn bis heute auf den deutschen Pass wartet, hat die bald 32-Jährige weiter Medaillen gesammelt - für Deutschland. WM-Bronze im letzten Jahr in Aarhus und bei ihrer EM-Premiere in Amsterdam nun Silber am Sprung. Bei der Qualifikations-WM für Peking, die im September in Stuttgart stattfindet, soll sie neben einigen jungen Mädchen die entscheidenden Punkte bringen. Es wären ihre fünften Olympischen Spiele. Der krönende Abschluss ihrer Karriere? Weit gefehlt. In ihrer leisen und ernsten Art äußerte Tschussowitina: "Ich denke, ich mache weiter. Bis London 2012." Wundern würde das keinen mehr.


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