Das Unbegreifliche verstehen

Shoah-Literatur Martin Amis' Stammverlag wollte seinen neuen Roman "Interessengebiet" nicht verlegen. Das Buch über eine Liebesgeschichte inmitten der Schrecken der Shoah ist umstritten.

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Martin Amis 2012 in Köln
Martin Amis 2012 in Köln

Foto: Maximilian Schönherr / CC

Er gilt als Enfant terrible der englischen Literaturszene. Gewiss gefällt sich Martin Amis, der Sohn des britischen Schriftstellers Kingsley Amis, auch in dieser Rolle. Die New York Times bezeichnete ihn einmal als wohl wütendsten Belletristen und Meister der ‚Neuen Widerwärtigkeit‘. Im Herbst 2015 ist Amis‘ neuer Roman auf Deutsch erschienen – bei einem Schweizer Verlag. Sein Stammverlag Hanser hat den im Konzentrationslager Auschwitz angesiedelten Roman „Interessengebiet“ nicht verlegen wollen. Und wie kann es anders sein – das Buch über eine Liebesgeschichte inmitten der Schrecken der Shoah ist umstritten.

Schwarzer Humor im Angesicht des Grauens

Interessengebiet ist sicherlich keine Komödie, jedoch machen Elemente wie der Lagerkommandant Paul Doll, der sich immer wieder selbst sagen muss, dass er ein normaler Mensch sei, das Buch zur Satire. Amis selbst sagte dazu, Satire ließe sich nicht vermeiden und dass sie militante Ironie sei. In einem Interview mit der FAZ erklärte er, dass er mit seinem Roman „die Idiotie des ganzen NS-Unternehmens hervorheben“ wolle, „die vollkommene Unverständlichkeit des Ganzen.“

Erzählt wird „Interessengebiet“ von drei Ich-Erzählern – dem Lagerkommandanten Paul Doll, dem SS-Obersturmbannführer Gold Thomson, der sich in Dolls Frau Hannah verliebt, und dem jüdischen Sonderkommando Szmul, der sich selbst als traurigsten Mann der Weltgeschichte bezeichnet.

Banalität des Bösen

Als Anfang der 1960er Jahre dem SS-Mann Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht wurde, schrieb Hannah Arendt über die Banalität des Bösen. Sie beschreibt Eichmann als Typus der arbeitsteiligen Moderne, den Massenmord als gesteuert von einer Ideologie des Planbaren und der Sachlichkeit. In „Interessengebiet“ zeigt Amis genau diesen Aspekt der Tötungsmaschinerie. Das Konzentrationslager ist nicht nur Vernichtungslager, sondern auch Profit Center des Nationalsozialismus. Zwischen ständig neu ankommenden Transporten, Selektionen und Gaskammern bewegen sich Nazis in einem Alltag, der allzu menschliche Probleme, Befindlichkeiten bis hin zu Gefühlen der Liebe beinhaltet. Figuren wie der Lagerkommandant Doll, der an Rudolf Höß angelehnt ist, sind natürlich bis hin zur Groteske überzogen. Er muss sich stets selbst sagen wie normal er eigentlich ist, so als glaubte er es selbst nicht.

Ein verstörendes Buch

Der Roman versucht Erklärungen zu finden – Erklärungen für das Unbegreifliche. Und hier liegt auch die Kontroverse dieser Geschichte und meiner Meinung nach nahezu jeder Geschichte über die Shoah. Kann man das Geschehene überhaupt erklären? Soll oder will man das? Und kann sich ein Autor, der nach 1945 geboren wurde und der keine persönliche Berührung mit dem Holocaust hat, diesem Thema angemessen annähern? Die Meinungen hierzu gehen auseinander. Kritiker meinen, dass man das Grauen, das man selbst nicht erlebt hat, auch nicht beschreiben kann. Können wir aber das Grauen in seiner ganzen Wirkung erfassen, wenn wir die Schilderungen eines Opfers lesen? Ich glaube nicht. Auch mit authentischen Augenzeugenberichten bleiben wir allein mit unserem individuellen Einfühlungsvermögen und unserer Imaginationsfähigkeit. Deshalb ist „Interessengebiet“ mit Sicherheit ein berechtigtes Buch. Und es ist ein verstörendes Buch. Auch das ist gut. Denn ein Stück weit schafft es der Roman zu zeigen, dass die Shoah nicht das Werk von Monstern, sondern von Menschen war – Menschen mit einem Alltag, mit einem Beruf, mit Bedürfnissen, Vorlieben und Wünschen. Umso mehr mahnt ein solches Buch, achtsam und wachsam zu bleiben, damit sich eine solche menschliche Tragödie nicht wiederholt.

Martin Amis: Interessengebiet
aus dem Englischen von Werner Schmitz
416 Seiten
Verlag: Kein & Aber
Dieser Beitrag erschien zunächst auf novelero - Blog für Literatur
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Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

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