Die (Nächsten-)Liebe in den Zeiten der Ebola

Essay Nächstenliebe klingt immer so nach Bergpredigt und christlicher Tugend. Wer ist denn unser Nächster und was gehen uns Lampedusa oder Westafrika an?

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Kirchenfenster: Der gute Samariter

Wenn ich das Wort „Nächstenliebe“ höre, fällt mir stets das Gleichnis vom guten Samariter ein. Das liegt vielleicht daran, dass ich als Kind eine katholische Schule besucht habe. In diesem Gleichnis aus dem Neuen Testament geht es jedenfalls darum, dass ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen und schwerverletzt liegen gelassen wird. Ein vorbeikommender Priester sieht den Mann und geht weiter ohne ihm zu helfen. Auch ein Levit geht an ihm vorbei. Erst ein dritter, der des Weges kommt, erbarmt sich und hilft dem Mann, indem er seine Wunden versorgt und ihn in eine Herberge bringt, wo er sich kurieren soll. Dem Wirt bezahlt er die Miete im Voraus. Der Helfer ist Angehöriger der Samaritaner, welche damals von den Juden als Abtrünnige gesehen und geringgeschätzt wurden. Ausgerechnet dieser Mann hilft dem verletzten Israeliten. Und hier kommen wir auch schon zum Begriff Nächstenliebe.

Was ist eigentlich Nächstenliebe und wer mein Nächster?

Dem Apostel Paulus zufolge ist die Liebe die höchste der drei christlichen Tugenden, welche da sind Glaube, Liebe und Hoffnung. Man kennt sie in Form von Kettenanhängern und als Tattoo-Motiv. Die Liebe wiederum wird in Kategorien unterteilt. Agape ist hierbei die Gottesliebe oder uneigennützige, interessenlose Liebe. Also die Liebe, die man auch seinen Feinden entgegenbringt. So wie der Samariter dem verletzten Israeliten. Nach der Auffassung der Bibel ist jeder Mensch, mit dem man in Kontakt kommt, der Nächste. Auch ohne die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Religion oder zur selben Volksgruppe. Nun war die Zahl der Menschen, denen man begegnete, durchaus begrenzter als dies heute der Fall ist. Wir sprechen heute vom globalen Dorf. Langstreckenreisen sind einfacher geworden, aber auch Technologien wie das Internet und hier vor allem Social Media bescheren und nicht nur Zugang zu beinahe unbegrenzten Wissen. Sie lassen uns auch mit Menschen überall auf der Welt in Kontakt treten.

Jeder einzelne Mensch auf der Erde ist so zu unserem Nächsten geworden.

In Afrika breitet sich seit Anfang des Jahres der tödliche Ebola-Virus aus. Nicht unbemerkt, aber kaum vom Westen beachtet. Tausende sterben irgendwo da unten, so weit weg, dass man die Epidemie als unwirklich wahrnimmt. Als sei das nichts, was uns beträfe. Aber es ist nicht allein die Ferne, die für den Graben zwischen dem Westen und Afrika verantwortlich ist. Es ist vielmehr die Einteilung in das Eigene und das Fremde. Afrika, das ist eine andere Welt. Afrikaner werden demzufolge nicht als unsere Nächsten gesehen. Erst als Ende Juli der weiße amerikanische Arzt Kent Brantley sich in Liberia mit Ebola infiziert und in die USA ausgeflogen wird, steigt das mediale Interesse an der Epidemie. Die Bild-Zeitung titelte damals: „Der gute Arzt und das böse Virus. Amerikaner infiziert sich mit Ebola, als er in Liberia Kinder behandelte!“ Brantley überlebt. Zur gleichen Zeit starb in Liberia der führende Ebola-Experte des Landes Sheik Umar Khan an der Krankheit, was kaum Beachtung in den Medien fand. Wir und die. Das Eigene und das Fremde.

Nehmen wir uns wieder den Samaritaner als Beispiel, dann sollten gerade in Zeiten der Not, solche Kategorien nicht mehr gelten. Dürfen wir also stillschweigend zusehen, wenn in Westafrika Tausende an einer Seuche wie der Ebola sterben? Oder wenn sich das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt und bis zu 1000 Menschen an einem einzigen Tag sterben, weil sie sich aus Verzweiflung auf den Weg gemacht haben, um ein besseres Leben zu suchen? Ist das alles so weit weg, dass es uns hier in Mitteleuropa nichts angeht? Nein, ist es nicht! Nicht, wenn wir als durch christliche Werte geprägte Menschen die Nächstenliebe als Gebot für das eigene Handeln für wichtig erachten. Nächstenliebe, genauer gesagt, tätige Nächstenliebe ist immer ein Dienst an den eigenen Mitmenschen.

Das Gebot der Nächstenliebe fordert jeden Einzelnen, nach seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten uneigennützig für andere da zu sein.Nun überlassen wir das dann vielleicht lieber Leuten, die sich damit auch auskennen. Nächstenliebe-Experten von der Caritas oder von Ärzte ohne Grenzen. Was können wir schon tun gegen die großen Plagen, die der Menschheit zu schaffen machen? Der Glaube an die eigene Machtlosigkeit ist aber fatal und schlichtweg falsch. Ein arabisches Sprichwort lautet: „Willst Du Dein Land verändern, verändere Deine Stadt. Willst Du Deine Stadt verändern, verändere Deine Straße. Willst Du Deine Straße verändern, verändere Dein Haus. Willst Du Dein Haus verändern, verändere Dich selbst.“ Vor allen großen Veränderungen stehen immer Veränderungen im Bewusstsein der Menschen. Revolutionen beginnen im Herzen. Oder mit den Worten Tolstois: „Alle denken nur darüber nach, wie man die Menschheit ändern könnte, doch niemand denkt daran, sich selbst zu ändern.“

Nächstenliebe ist nachhaltig

Nächstenliebe hat immer einen Beiklang von Pathos und religiöser Tugend. Dabei bedeutet tätige Nächstenliebe einmal modern ausgedrückt doch nicht anderes als nachhaltiges Handeln. Handle ich sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig tue ich per se einen Dienst an meinem Nächsten, egal wo auf der Welt dieser sich befindet. Sogar, wenn er noch gar nicht das Glück oder Pech hatte, in diese Welt geworfen worden zu sein. Denn nachhaltiges Handeln setzt sich auch dafür ein, eine lebenswerte Welt für nachkommende Generationen zu erhalten. Oder eigentlich zu schaffen, denn man kann leider in vielen Teilen der Welt von einer eher lebensfeindlichen als einer lebenswerten Umgebung sprechen.

Wem der Begriff Nächstenliebe zu christlich angehaucht ist, der kann ihn im Grunde auch einfach durch den Kategorischen Imperativ des Immanuel Kant ersetzen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieser Satz des großen Aufklärers leitet sich allein aus der Vernunft ab. Ganz ohne Metaphysik und Spiritualität. Und doch besagt er nichts anderes als der christliche Wert so zu handeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Und das heißt eben nicht nur „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ Das würde nur das Vermeiden von negativen Handlungen einschließen. Vielmehr sollten wir darum bemüht sein, stets so zu handeln, wie wir erwarten behandelt zu werden und das auch im positiven Sinne. Der Mensch braucht eben auch Zuneigung, Liebe und Hilfe durch seine Mitmenschen in gewissen Situationen. Kaum ein Mensch möchte in Zeiten der Not ignoriert werden. Mit der zunehmenden Globalisierung hat Nächstenliebe eine neue Dimension erhalten. Unser Handeln wirkt sich nicht mehr nur auf unseren unmittelbaren Nachbarn aus. Natürlich können wir als Einzelne nicht der ganzen Welt helfen, dennoch können wir uns der Verantwortung für Menschen in anderen Ländern nicht entziehen. Unser Handeln und unsere Konsumgewohnheiten beeinflussen das Leben in anderen Ländern zu sehr, als dass wir sagen könnten, uns gingen etwa die Arbeitsbedingungen in Bangladesch nichts an. Nächstenliebe ist Verantwortungsethik. Sie beginnt bei den Menschen, mit denen man täglich zu tun hat und endet bei denen, die noch gar nicht geboren sind – irgendwo auf der Welt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

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