Gegenstimmen in digitalen Zeiten

Intellektuelle Gerade in Zeiten, in denen Menschen sich von „denen da oben“ verlassen fühlen und in denen Stimmungsmache im digitalen Raum einfacher denn je ist, sind Gegenstimmen nötig

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt

Wenn über Intellektuelle gesprochen wird, denkt so manch einer unwillkürlich an Jean-Paul Sartre. Für viele ist er geradezu der Prototyp des Intellektuellen. Sartre selbst hat sich eingehend mit der Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft befasst und schrieb in der Monatszeitschrift LES TEMPS MODERNES:

„Wir schämen uns nicht, zu schreiben und wir haben absolut keine Lust nur zu reden, um nichts zu sagen.(…) Weil der Schriftsteller sich absolut der Sache nicht entziehen kann, wollen wir, dass er sich ganz und gar seiner Epoche stellt. Sie ist seine einzige Chance. Sie ist durch ihn entstanden und sie hat ihn hervorgebracht. Wir können die Gleichgültigkeit eines Balzac angesichts der Juni-Unruhen des Jahres 1848 nur bedauern, wie auch das von Angst geprägte Unverständnis eines Flaubert gegenüber der Pariser Commune. Wir bedauern dies ihretwegen; denn da wurde etwas Wichtiges von ihnen für immer verpasst. Wir hingegen wollen nichts an unser Zeit verpassen.“

Ein Intellektueller sollte demnach nicht bloß an der literarischen Front kämpfen, sondern sich durchaus auch politisch engagieren. Auch auf die Gefahr hin, dass er polarisiert, wovon Sartre ein Lied singen konnte. Man denke nur an seinen Gefängnisbesuch beim RAF-Mitglied Andreas Baader in Stuttgart-Stammheim und an die entsprechenden empörten Reaktionen. Wozu aber braucht eine Gesellschaft Intellektuelle, was ist ihre Rolle, ihre Aufgabe?

Gemeinhin gelten Intellektuelle vor allem als Angehörige akademischer oder künstlerischer Berufe, die sich in ihrem Tätigkeitsbereich eine gewisse Reputation erarbeitet haben und sich in bestimmten Angelegenheiten öffentlich zu Wort melden, die außerhalb ihres eigentlichen Tätigkeitsfelds liegen und von allgemeinem politischen Interesse sind. Es gibt eine ganze Reihe an Erwartungen, die an die Intelligenzija gestellt werden. Zum Beispiel sollen Intellektuelle Vorbild und Vordenker sein, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Der Intellektuelle klagt an

Die Figur des Intellektuellen ist 1898 hat Émile Zolas berühmtem „J’accuse“ die Weltbühne betreten. In seinem Aufruf gegen die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverrats protestierte Zola öffentlich und erhob schwere Vorwürfe gegen Militär und Justiz. Kurz darauf folgten dem Schriftsteller weitere bekannte Schriftsteller und Akademiker, die eine am 15. Januar erschienene Petition zur Revision des Dreyfus-Urteils – die sogenannte „protestation des intellectuels“ – unterzeichneten. Der Intellektuelle, der seine Stimme erhebt, anklagt und fordert, war geboren.

Der Intellektuelle als Beleidigung

Während es in Frankreich bei aller Kritik im Grunde immer etwas gegolten hat, ein Intellektueller zu sein, entwickelte sich das Intellektuellenbild in Deutschland in eine andere Richtung. Insbesondere während der NS-Zeit geriet der Begriff „Intellektueller“ vor allen den Rechten geradezu als Schimpfwort, das sie Erzfeinden wie Juden, Liberalen Kommunisten entgegen schleuderten. Intellektuelle seien undeutsch, Zersetzer, Neinsager aus Prinzip, dekadente Weicheier. Erst nach dem Verwerfungen des Zweiten Weltkrieges wurden ihre Stimmen wieder gehört und gefragt. Insbesondere in der Zeit der 68er-Proteste stieg die Bedeutung von Intellektuellen – von Sartre über Habermas und Bloch bis hin zum Studentenführer Rudi Dutschke.

Der Intellektuelle in der Postmoderne

Ihren Höhepunkt hatten die deutschen Intellektuellen wohl während der Zeit des Deutschen Herbstes, als die RAF das Land mit Bombenanschlägen und Entführungen in Angst und Schrecken versetzte. Gewiss hatten sie ihren Anteil daran, dass die verunsicherte Gesellschaft nicht nach rechts abdriftete. Hier sei nur Heinrich Böll genannt als Gegenstimme zur sensationsgeilen Springer-Presse. Es erstaunt umso mehr, dass nur wenige Jahre später das Ende der Intellektuellen eingeläutet zu sein schien. Mit der Digitalisierung haben sich die Bedingungen für Intellektuelle ebenso wie für jeden Mediennutzer geändert. Es fiele leicht zu sagen, man brauche heute keine Intellektuellen mehr, wo doch dank des Internets sämtliche Information frei verfügbar und Meinungsbildung so einfach wie nie ist. Meiner Meinung nach ist aber gerade das ein Trugschluss. Natürlich haben wir heute einen kaum mit prädigitalen Zeiten vergleichbaren Zugang zu Wissen. Aber ebenso groß ist auch der Zugang zu Halbwissen, Fehlinformationen bis hin zu obskuren Verschwörungstheorien. Hier besteht die Gefahr der Stimmungsmache in einer Dynamik, die es im Printzeitalter so nicht gegeben hat. Deshalb sollte der Ruf nach virtuellen Intellektuellen, die auch im Internet und den sozialen Medien Gegenstimmen bilden, laut werden.

Dieser Beitrag erschien auf novelero.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden