Generation Burnout

Anders leben Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Was ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen überfordert fühlen und ausbrennen? Und wie ändern wir das?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Generation Burnout

Foto: Jewel Samad/AFP/Getty Images

Morgens, direkt nach dem Aufstehen, beschleicht Jörg (Name geändert) dieses ungute Gefühl. Deshalb zögert er es auch stets so weit hinaus wie möglich, das Bett zu verlassen. Statt vom Schlaf erholt fühlt er sich bereits jetzt gerädert und es kommen die ersten Zweifel auf, ob er den heutigen Tag überstehen kann. Einen Tag wie jeder andere. Ein Tag, an dem voraussichtlich nichts Unvorhergesehenes passieren wird, und der ihn doch in leichte Panik versetzt. Der Magen zieht sich zusammen und der Brustkorb fühlt sich wie zugeschnürt an. Jörg ist jetzt Mitte 30 und leidet seit gut zehn Jahren an einer Angststörung mit wiederkehrenden depressiven Phasen. Man merkt es ihm nicht an. Er geht arbeiten, ist etwas zurückhaltend, aber wirkt sonst ganz normal, was auch immer normal sein mag

So wie Jörg geht es Millionen Deutschen. Das Portal statista führt an, dass im vergangenen Jahr 26 Prozent der Menschen in Deutschland depressive Symptome gezeigt hätten und ein Viertel der Bevölkerung unter einer Angststörung leidet. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile zum zweitwichtigsten Grund für eine Arbeitsunfähigkeit avanciert. Depression wird schon als Volkskrankheit bezeichnet so wie ein Hexenschuss oder Sodbrennen.

Nie ging es uns besser und nie fühlten wir uns so schlecht

Trotz Hartz 4 war der Lebensstandard in Deutschland und westlichen Gesellschaften im Allgemeinen nie so hoch wie er heute ist. Individualität wird groß geschrieben, persönliche Entfaltung ist wichtig. 1968 war der Befreiungsschlag für das Individuum, alle sind wir jetzt freie Menschen. Wenn nun jeder so sein kann wie er will und das tun kann was er möchte, dann sollte es doch grundsätzlich nur noch tendenziell glückliche Menschen geben. Aber das wäre ein Trugschluss.

Von der Freiheit sich selbst verwirklichen zu können ist es nur ein Schritt hin zum Zwang sich selbst optimieren zu müssen. Denn die Bedingung für unsere Freiheit ist es erfolgreich zu sein. Selbstmanagement ist dabei so ein Stichwort. An sich arbeiten, um optimal zu funktionieren. Wer nicht funktioniert, fällt aus dem Rahmen, passt nicht in die Gesellschaft und hat es schwer Teil von ihr zu sein. Menschen wie Jörg, die über Jahre hinweg zwanghaft versuchen zu funktionieren, sich selbst den Maßstäben der Gesellschaft, in der jeder seines Glückes eigener Schmied ist, anzupassen, werden irgendwann krank. Ihre eigene Identität oder besser gesagt ihr Lebensentwurf, ihre Bedürfnisse und Wünsche decken sich nicht mit den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Identität ist eine vielschichtige, zutiefst widersprüchliche Konstruktion, die nur schwer in Einklang zu bringen ist. Wenn die eigenen Bedürfnisse nicht innerhalb der Gesellschaft, in der man lebt, befriedigt werden können, bleibt nur der Ausstieg. Oder die Aggression. Zunächst gegen das System, dann gegen sich selbst. Und die endet in der Unfähigkeit, sich selbst zu lieben, in der Depression.

Die nächste Generation der Ausgebrannten

Nun wird in Deutschland inzwischen etwas offener mit psychischen Erkrankungen umgegangen. Psychotherapien und die Herstellung von Psychopharmaka sind Boom-Geschäfte. Und gerade Psychopharmaka sind häufig Mittel, die nicht zwangsläufig eine Heilung herbeiführen, sondern das Funktionieren des Einzelnen gewährleisten sollen. Medikamentöse Behandlungen als solche sollen hier in keiner Weise in Frage gestellt werden, jedoch stimmen etwa die massiv gestiegenen Zahlen der von mit Medikamenten wie Ritalin behandelten Kinder durchaus nachdenklich. Haben tatsächlich alle diese Kinder ein Problem oder liegt das Problem bei der Gesellschaft?
Man muss befürchten, dass wir uns geradezu die nächste Generation von selbstzweifelnden, ausgebrannten Menschen heranzüchten. Nicht viel anders ist es mit der so genannten Generation Y. Die nach 1980 geborenen, die ausnahmslos über den gleichen medialen Kamm geschoren werden. Diese Generation, so heißt es, sei im Wohlstand aufgewachsen und mache sich wenig Sorgen um die Zukunft. Leistungsorientiert und äußerst flexibel seien die Ypsiloner. Ein Satz, den sie wohl häufig in ihrem behüteten Elternhaus gehört haben, ist: „Du kannst alles erreichen, was du möchtest.“ Willkommen in der Meriokratie! Was aber Sätze wie dieser auch implizieren, ist, dass wenn man scheitert, die Schuld zwangsläufig bei einem selbst liegt. Und so schreiben wir einer ganzen Generation munter Eigenschaften zu, die niemals auf den Einzelnen zutreffen können, sondern höchstens als tendenziell zu sehen sind. Diejenigen, die diesen Erwartungen nicht gerecht werden, sind dann die nächsten Kandidaten für Psychiatrie und Psychotherapie.

Vielleicht brauchen wir neue Utopien

Natürlich hört sich das sehr schwarzgemalt an. Und statt eine Dystopie heraufzubeschwören, ist es viel sinnvoller, an Auswegen zu arbeiten. Einige Menschen tun das bereits. Menschen, die ihrer Sehnsucht nach Freiheit, Sinn oder Gemeinschaft gefolgt sind und die Grenzen des Möglichen ausgelotet haben, gab es schon immer. Menschen wie der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine selbsterbaute Blockhütte am Walden-See bezog und dort etwa zwei Jahre allein und selbständig lebte. Diese Zeit beschreibt er in seinem Werk „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“.
Aber auch heute noch gibt es überall auf der Welt Menschen, die beschließen anders zu leben. Die Weltreporter stellen 17 solcher Beispiele in dem von Marc Engelhardt herausgegebenen Buch „Völlig utopisch“ vor. Die große Zeit der Utopien hatten wir in den sechziger und siebziger Jahren. Doch im von Ilija Trojanow verfassten Vorwort heißt es: „…heute, da Überwachungsstaat, oligarchische Strukturen, destruktive Finanzmärkte und vieles Kriminelle mehr Gegenentwürfe geradezu provozieren, braust der Wind wieder auf.“ Neben bekannten Projekten wie den dänischen Freistaat Christiania finden wir in dem Buch etwa die katalanische Hacker-Kommune Calafou oder eine selbstverwaltete Fabrik in Argentinien. Allesamt gelebte Utopien, die zeigen, dass man eben auch anders leben kann.

Neue Formen der Arbeit

Muss man aber zwangsläufig aus der Gesellschaft aussteigen, um selbstbestimmter leben zu können oder kann man den gesamtgesellschaftlichen Wandel auch durch Perspektivwechsel beim Einzelnen erreichen? Der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann entwickelte dazu das Konzept der „New Work“. Dessen zentralen Werte sind Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft. In so genannten Zentren für Neue Arbeit sollen Menschen mithilfe von Mentoren herausbekommen, welche Arbeit sie wirklich tun wollen. Das herauszufinden ist keine einfache Aufgabe. Bergmann nennt das „Selbstunkenntnis“. Die Frage nach der Arbeit, die jemand wirklich tun möchte, soll eine Suchbewegung eröffnen, um schließlich das eigene Leben so zu verändern, dass man sich lebendig(er) fühlt.

Ein Unternehmen, das schon jetzt gänzlich anders arbeitet als herkömmliche Unternehmen, ist das Hamburger Kollektiv Premium Cola. Bei Premium sind alle Menschen gleichwertig, woraus sich ergibt, dass alle Entscheidungen mit allen im Konsens getroffen werden. So wird auch zum Beispiel über Löhne entschieden. „Stundenkontrollen gibt es aber nicht, jede/r rechnet ab, was er/sie meint“, erzählt Uwe Lübbermann, der Initiator von Premium Cola. „Ergänzungen zum Lohn gibt es nur für Kinder und bei Behinderungen. Das bedeutet, niemand kann zum Beispiel durch mehr Leistung finanziell aufsteigen.“ Das wurde natürlich bereits kritisiert, aber ein Kennzeichen von Sozialsystemen ist es, dass die Leistungsfähigeren die weniger Leistungsfähigen mitziehen. So ist gewährleistet, dass der einzige Anreiz, bei Premium zu arbeiten, inhaltlicher Natur ist. Premium-Mitarbeiter arbeiten dort, weil es das ist, was sie tun möchten – und das bei freier Wahl des Ortes oder der Zeit, in der gearbeitet wird. „Das ganze dreht sich eigentlich nur darum, mit Menschen auf Augenhöhe zu arbeiten. Wenn man das dauerhaft macht, wird man zwar nie Millionär, spart sich aber ganz viel negativen Stress. Ich musste in 13,5 Jahren nur zweimal jemanden rauswerfen“, so Uwe „ insgesamt habe ich so wenig negativen Stress, dass das meiner psychischen Gesundheit auf jeden Fall sehr gut tut. Ich würde es nicht mehr anders haben wollen.“

Dieser Text erschien zeitgleich im Transform Magazin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden