Kein weiblicher Bernhard, aber

Literatur Der neue Roman der Argentinierin María Sonia Cristoff reizt zu ganz großen Vergleichen
Ausgabe 39/2015

Jenseits von Buenos Aires ist Argentinien vor allem dies: eine schwach besiedelte, weite Landschaft und jede Menge Ruhe. Diese Ruhe ist es auch, die die Protagonistin Mara im gerade erschienenen Roman Lasst mich da raus der argentinischen Schriftstellerin María Sonia Cristoff sucht, als sie ihr altes Leben hinter sich lässt, um eine Anstellung als Saalwärterin in einem Provinzmuseum im Hinterland von Buenos Aires anzunehmen. Lasst mich da raus ist der vierte auf Deutsch veröffentlichte Roman der 1965 in Trelew, Patagonien, geborenen und heute selbst in Buenos Aires lebenden Autorin.

Mara also möchte schweigen – nachdem sie in ihrer Tätigkeit als Simultandolmetscherin fast ohne Unterlass sprechen musste. Ein Job in einem wenig besuchten Museum scheint da ideal. Und dass sie in der Nähe ihrer Heimatstadt bleibt, zeigt, dass sie sich, nach vielen Jahren des Reisens, nicht mehr groß bewegen will.

All das erinnert an den berühmten Ausspruch von Herman Melvilles Antiheld Bartleby, dem Schreiber: „I would prefer not to“ – ich möchte lieber nicht. Auch Mara möche lieber nicht, ihr Vorhaben kann als Versuch gedeutet werden, sich den mannigfachen Manipulationen und Zwängen zu entziehen, wie sie ihr bei ihrer Arbeit für diverse internationale Organisationen begegnet ist.

Das mächtigste Instrument dieser Manipulation ist die Sprache, das weiß die Dolmetscherin natürlich. Sie will also Schweigen, entwickelt eigens ein Handbuch der Rhetorik, in dem sie zehn Formen des Schweigens unterscheidet. Freilich ist ihr Schweigen nicht absolut. Mara möchte sich ja nicht verstecken, sondern kämpfen. Von ihrem Stuhl im Museum aus möchte sie Widerstand leisten. Widerstand gegen eine Gesellschaftsordnung, die Menschen danach beurteilt, wie nützlich sie sind. Dabei ist Mara keineswegs passiv oder gar depressiv. Vielmehr zieht sie sich zurück, um innezuhalten – und um im zweiten Teil des Romans schließlich zu reagieren, nachdem sie befördert und einem redseligen Tierpräparator zur Seite gestellt wird.

Das Überdrehte fehlt

In Argentinien wurde Cristoff für ihren Roman hoch gelobt. Die Literaturkritikerin Beatriz Sarlo wählte ihn gar zum besten argentinischen des Jahres 2014. Spätestens seit ihrem Aufenthalt als Stadtschreiberin in Leipzig 2010 ist die Autorin auch in Deutschland keine Unbekannte mehr.

In seiner Verlagsvorschau preist der Berenberg-Verlag Cristoff als eine Art argentinischen Bernhard an: „Würde Thomas Bernhard leben, wäre er eine Frau und lebte er in Argentinien – es wäre sein Buch!“ Ein Vergleich, der allerdings hinkt, auch wenn sich einige Analogien gewiss nicht leugnen lassen. Maras selbst auferlegtes Schweigejahr in der Provinz erinnert ja durchaus an Bernhard, durch dessen Werk sich das Thema Isolation wie ein roter Faden zieht. Und auch die vielen Wort- und Satzwiederholungen kennt man aus dem Werk des Österreichers, der sie zum Stilprinzip erhoben hat. Cristoff arbeitet ebenfalls mit Repetitionen, die jedoch selten inhaltlicher Natur sind, und vor allem arbeitet sie mit Aufzählungen: „Die Gründe für seinen Überdruss: der Lauf der Zeit, neue Verheißungen, neue Verrücktheiten, laue Überzeugungen, trübe Gewohnheiten, Idiotie, Geschwätz, Ahnungslosigkeit, Provinzialität, die Verwüstung der Stadt.“

Und dann fehlt das Überdrehte und auch die Selbstironie der bernhardschen Protagonisten. María Sonia Cristoff selbst nennt denn auch andere Vorbilder. Einflüsse auf sie hätten vor allem Autoren gehabt, die sich unwohl an ihrem Geburtsort gefühlt, autobiografisch und nicht besonders feierlich geschrieben haben. Autoren wie Melville, Beckett oder Huysmans.

„In der Tat ist Lasst mich da raus eine Art Hommage an einen seiner Romane“, sagt die Autorin. Auf die Analogie ihres Plans zum Rückzug des Des Esseintes, der Hauptfigur in Joris-Karl Huysmans’ Gegen den Strich, macht Mara selbst in einer ihrer Notizen, die den Text des Romans durchziehen und die Handlung immer wieder aufbrechen, aufmerksam: „Raus aus Paris, raus aus Paris, so schnell wie möglich. Fortgehen. Sich absondern.“

Lasst mich da raus María Sonia Cristoff Peter Kultz (Übers.), Berenberg 2015, 160 S., 20 €

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Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

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