Mutterlandlosigkeit

Migrationsliteratur In ihrem Buch beschreibt Igiaba Scego, in Italien geborene Tochter somalischer Einwanderer, was es heißt, mutterlandlos und doch Italienerin zu sein.

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Mutterlandlosigkeit

Foto: Magnus Hagdorn/Flickr (CC SA 2.0)

Dismatria. Diesen Begriff gibt es so im Italienischen eigentlich nicht. Manchmal wird die Erzählerin der gleichnamigen Kurzgeschichte korrigiert und darauf hingewiesen: “Auf Italienisch sagt man espatriare, espatrio, ihr lebt also außerhalb eures Vaterlandes!” Dennoch bleibt sie dabei: Dismatria. Man könnte es mit Mutterlandlosigkeit übersetzen. In dem kürzlich im nonsolo Verlag erschienenen Buch beschreibt Igiaba Scego, was es heißt, mutterlandlos zu sein. Scego ist Tochter somalischer Einwanderer. Geboren und aufgewachsen in Italien, ist die die Familie der Protagonistin verhaftet in einem Dazwischen. Sie möchte gerne eine Wohnung kaufen. Eine Wohnung in Rom. Dort, wo sie seit eh und je lebt. Doch traut sie sich kaum, dies ihrer Mutter, ihrer Familie zu erzählen. Also nimmt sie Angelique mit, die einmal Angel hieß. Das sollte kein Problem sein. Was aber ein Problem ist, sind die Koffer.

“Ja, Koffer, ich schwöre. Diese quaderförmigen Dinger, in die wir unsere Sachen reintun, wenn wir irgendwo hinfahren müssen, weit weg normalerweise.”

In ihrer Familie gibt es keine Schränke. Dafür hat jedes Familienmitglied einen oder gleich mehrere Koffer. Es gibt die Redensart “auf gepackten Koffern sitzen”. Bei ihrer Familie ist das eine Lebenseinstellung. Seit Jahrzehnten leben sie in Italien, angekommen sind sie nie. Ihre alte Heimat Somalia haben sie verloren. Das Somalia, das sie verlassen haben, gibt es so nicht mehr. Dennoch sehnt sich die Familie zurück, will sich nicht festlegen. Deshalb Koffer. Deshalb ist es ein Problem, eine Wohnung in Italien zu kaufen. Wohnungen kauft man meist zu dem Zweck, darin zu leben. Dauerhaft.

Dismatria. Das ist eine Wortschöpfung von Igiaba Scebo, einer wohltuenden Stimme im italienischen Literaturbetrieb. Ihr Vater war prominenter Politiker in Somalia. Nach dem Staatsstreich 1969 emigrierte die Familie nach Italien, wo die Autorin 1974 geboren wurde. Sie studierte an der Universität La Sapienza und wurde an der Universität Rom III in Pädagogik promoviert. Sie schreibt vorwiegend zu Migration und postkolonialen Themen. Dennoch wäre es verkürzt, zu sagen, ihre Literatur sei Migrationsliteratur. Sie ist Italienerin, ihr Schreiben geprägt von einer Hybridität, die nahezu alle Kinder von MigrantInnen kennen.

„In Rom rennen die Leute immer, in Mogadischu rennen die Leute nie. Ich bin ein Mittelweg zwischen Rom und Mogadischu: ich gehe zügig.“

Leider bekommt man hierzulande nur selten italienische Literatur aus einem postmigrantischen Blickwinkel zu lesen. Um so besser, dass mit Scego eine Autorin übersetzt wurde, die mit unheimlich viel Witz und einer guten Portion Selbstironie erzählt, um doch nachdenklich zu machen. Insbesondere, wenn man bei der Kombination der Begriffe “Italien” und “Migration” zunächst an die großen italienischen Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika, aber auch nach Deutschland denkt. L'Emigrazione ist ein populärer Topos der italienischen Literatur, aber auch der Musik. Genau dieses Thema beleuchtet sie in der Erzählung “Als die Italiener keine Weißen waren”, denn “Weiß” ist so wenig eine Farbe wie “Schwarz”.

“Weiß ist eine Gesamtheit von Privilegien, keine Hautfarbe. Weiß ist eine soziale Konstruktion.”

Und die Zugehörigkeit zu einem solchen Konstrukt kann sich mit der Zeit ändern. So wurden die italienischen EinwanderInnen in den USA nicht immer als Weiße betrachtet, wurden ausgebeutet und waren von Rassismus betroffen. “Italiener zu sein, war ein Problem; oft war es besser, sich als jemand anders auszugeben, um nicht Opfer von Rassismus zu werden.” So beschreibt es auch der italoamerikanische Schriftsteller John Fante. Oft waren Selbstverleugnung und Selbsthass die Folge. Das scheint Italien teilweise vergessen zu haben. Noch immer regelt ein anachronistisches Gesetz etwa die Staatsbürgerschaft, macht es Menschen schwer, Italien als Heimat und sich als ItalienerInnen zu sehen. Und doch bekennt sich Scego zu Italien: “Und wenn ich mich für eine Schublade entscheiden müsste, dann wäre es die der italienischen Schriftstellerin.” Das ist sie in der Tat – und zwar eine, von der wir noch viel Kluges erwarten dürfen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

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