Ohne Kriege gäbe es keine Flüchtlinge

Replik In seiner Tagesspiegel-Kolumne verbindet Harald Martenstein die Flüchtlingsfrage mit der Kapitalismuskritik. Sein Fazit: Ohne Reiche kein Sozialstaat. Stimmt das?

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Was haben wir für ein Glück in Deutschland, im Westen, in einer Demokratie, im Kapitalismus geboren zu sein. Wenn nicht geboren, dann eben später hinzugekommen. Denn unser System, diese "unschlagbare Kombination" aus Kapitalismus, Freiheit und Rechtsstaat ist nach Martenstein genau das, was Flüchtlinge aus der ganzen Welt dazu bewegt, gerade nach Deutschland zu kommen.

Natürlich möchte ich nicht tauschen mit jemandem, der gezwungen ist, seine Heimat aus welchem Grund auch immer zu verlassen. Und ja, grosso modo leben wir recht gut. Aber dass es anderen schlechter geht, kann doch kein Argument dafür sein, dass man das eigene System nicht kritisieren solle. Kritiker sind keine in wohlhabende Familien geborene Kinder, die ihre reichen Eltern verachten.

Die oberen zehn Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen etwa zwei Drittel des gesamten Vermögens, das ebenso wie die Kapitalerträge im vergangenen Jahrzehnt stets stieg, während Löhne und Gehälter real sanken. Wenn überhaupt, dann sind Kapitalismuskritiker die Kinder äußerst ungerechter Eltern. Auch Reiche zahlen Steuern und tragen unseren Sozialstaat mit, aber würde eine Umverteilung der Vermögensverhältnisse das nun ändern? Und auch das Argument, dass der Kapitalismus nur funktioniere, weil eben die reichen kapitalistischen Staaten die ärmeren ausbeuten, lässt Martenstein nicht gelten. Wenn man nämlich genau hinschaue, dann seien dort in den geplünderten Ländern meist korrupte Gangstercliquen oder fanatische Einheitsparteien an der Macht. Eine schöne, einfache Sicht der Dinge. Selbst wenn dem so wäre, dann wären es eben diese Cliquen, mit denen wir Geschäfte machen. Ein Teil unserer Reichen schlägt schließlich unheimlichen Profit aus der Produktion von Waffen. Sollte man auch nicht vergessen.

Wie auch immer. Als Beweis dafür, dass jeder gerne im Kapitalismus leben möchte, führt Martenstein auf, dass niemand in ein sozialistisches Land flüchten würde. Nun, davon haben wir auch nicht mehr so viele in Europa. Trotzdem belegen Zahlen etwas anderes. Im Jahr 2009 etwa hat das sozialistische Venezuela 201.244 Flüchtlinge aus dem benachbarten Kolumbien aufgenommen.

Ich glaube, es gilt in Wirklichkeit vielmehr das Motto der Bremer Stadtmusikanten: "Etwas Besseres als den Tod findest du überall."

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Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

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