Unten am Bach

Gesellschaftskritik Der Naturphilosoph Henry David Thoreau hat Gandhi, Martin Luther King und Occupy inspiriert. Sein Werk ist aktueller denn je
Ausgabe 32/2015
Thoreaus Hütte am Walden-See in Massachusetts
Thoreaus Hütte am Walden-See in Massachusetts

Foto: Magnus Manske/CC

Eine kleine, karge Holzhütte mitten im Wald. Viereinhalb Meter lang, drei Meter breit und zweieinhalb Meter hoch. An den Seiten je ein Fenster, auf dem Dach ein schmaler Ziegelschornstein. Auch wenn Henry David Thoreau von seinen Zeitgenossen nicht immer allzu ernst genommen wurde, bilden seine hier entstandenen Tagebucheinträge die Vorläufer für eines der bekanntesten Werke der US-amerikanischen Literaturgeschichte: Walden. Ein Leben mit der Natur. Für Generationen von Zivilisationskritikern, Aussteigern und Nonkonformisten ist das Buch seitdem zur Inspiration geworden. Seine späteren Werke, allen voran der Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, avancierten darüber hinaus zu Wegweisern für den gewaltfreien Widerstand Mahatma Gandhis oder Martin Luther Kings, ja selbst Bewegungen wie Occupy kann Thoreau problemlos als Vordenker dienen.

„Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewußt zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könnte, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.“ (S. 100)

Heute muss uns Thoreau aktueller denn je erscheinen. Als ökologischer Pionier, Apologet der Entschleunigung und Stichwortgeber der Gegenkultur bildet er den intellektuellen Kontrapunkt zum neoliberalen Nützlichkeitsdenken. Doch fing das Leben des avantgardistischen Schriftstellers zunächst eher harmlos an. Als Sohn eines Bleistiftfabrikanten erblickt er am 12. Juli 1817 im beschaulichen Concord, Massachusetts, das Licht der Welt. Von 1833 bis 1837 studiert er in Harvard. Seine anschließende Stelle als Lehrer gibt er jedoch auf, weil er seine Schüler nicht, wie im 19. Jahrhundert üblich, mit dem Stock erziehen will. Gemeinsam mit seinem Bruder John gründet er in seiner Heimatstadt deshalb kurzerhand eine Privatschule, deren progressiver Lehrplan den Zöglingen unter anderem auch Fächer wie „Spaziergänge durch die Natur“ oder Unternehmensbesuche anbietet.

Nach dem frühen Tod des Bruders muss er die Schule wieder schließen. Doch kommt ihm bald zugute, dass Concord in jener Zeit ein intellektueller Brennpunkt Nordamerikas ist. Hier propagiert der Schriftsteller, Philosoph und ehemalige Pfarrer Ralph Waldo Emerson den Transzendentalismus, eine vom deutschen Idealismus ausgehende Form der liberalen Lebensphilosophie, und versammelt dabei eine illustre Schar von Denkern um sich. So treffen Thoreau und Emerson 1837 das erste Mal aufeinander. Zusammen mit Amos Bronson Alcott, Margaret Fuller und George Ripley gründen die beiden 1840 die Zeitschrift The Dial (1840–1844). Der in dieser Zeit bereits berühmte Emerson schreibt damals über Thoreau: „Ich habe Herzensfreude an meinem jungen Freunde. Nie, glaube ich, ist mir ein solch freimütiger, fester Charakter begegnet.“

Am 4. Juli 1845 zieht Thoreau dann allein in eine selbstgebaute Hütte auf Emersons Grundstück am Walden-See, ganz in der Nähe seiner Heimatstadt Concord. Er lebt von dem, was der von ihm beackerte Boden hergibt. Ab und an angelt er auch ein paar Fische. Die meiste Zeit verbringt er jedoch damit, zu beobachten und schlichtweg: zu leben.

„Im Sommer saß ich mitunter nach dem gewohnten Bad von morgens bis mittags traumversunken zwischen Kiefern, Hickory- und Sumachbäumen in ungestörter Einsamkeit und Stille vor meiner Tür in der Sonne. Die Vögel um mich herum sangen oder huschten geräuschlos durch das Haus, bis mir die Sonnenstrahlen, die durch das Westfenster fielen, oder ein Wagen auf der fernen Landstraße das Vergehen der Zeit zum Bewußtsein brachten. In solchen Stunden richtete ich mich auf wie der Mais über Nacht. Sie waren weit wertvoller als jede körperliche Arbeit. Sie bedeuteten keine Verringerung meiner Lebenszeit, sondern gingen weit über das mir eingeräumte Maß hinaus.“ (S. 123 ff.)

Die damalige Arbeitswelt ist Thoreau zutiefst zuwider. Seine Abscheu geht sogar so weit, dass er glaubt, dass derjenige, der einen Beruf ergreift, schon verloren sei. Denn die Erwerbsarbeit halte den Menschen nur von seiner natürlichen Bestimmung ab - und diese besteht nach Thoreau in der kontemplativen Beobachtung und intensiven Reflexion. Darüber hinaus erkennt er bereits zu jener Zeit, welche fatale Entwicklung die Lohnarbeit nehmen wird. Er warnt, dass dem arbeitenden Individuum bald kaum mehr Muße bleibe, sodass dieses sich im Banne des zivilisatorischen Dauerdrucks zu einer menschlichen Maschine entwickle.

Anfangs kein Bestseller

Das Buch wurde nach sieben Entwürfen schließlich beim Verlag Ticknor & Fields im August 1854 veröffentlicht und war kein Bestseller. Die Startauflage von 2000 Exemplaren war erst fünf Jahre später verkauft. Thoreau versuchte daraufhin, den Verlag von einer zweiten Auflage zu überzeugen, dieser wartete damit aber bis Mitte 1862. Im späten 19. Jahrhundert stand Walden wohl in nahezu jedem amerikanischen Arbeiterhaushalt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es bei den sogenannten Wandervögeln, einer lebensreformerischen Jugendbewegung, hoch angesehen. Hermann Hesse schrieb einmal über das Werk: „Die amerikanische Literatur, so kühn und großartig sie ist, hat kein schöneres und tieferes Buch aufzuweisen“

In Walden verdichtet Thoreau seinen nicht ganz zweieinhalbjährigen Aufenthalt in der Wildnis nun auf ein einziges Jahr. So schildert er mit dem Verlauf der Jahreszeiten seine eigene geistige Entwicklung. Zwischen philosophischen Betrachtungen und Reflexionen über die Gesellschaft fließen in den vielschichtigen Text deshalb auch immer wieder Tagebuchnotizen oder Naturbeschreibungen ein. Dabei stellt Thoreau wiederholt das ursprüngliche Erleben der Wildnis jener modernen Gesellschaft gegenüber, in der Industrialisierung, Privatbesitz und Materialismus den Menschen von der Natur und seinen wahren Bedürfnissen entfernen. Er selbst votiert freilich für Ersteres. Denn für ein Leben, in dem das Streben nach Glück gleichbedeutend mit der Jagd nach Konsumgütern ist und alles dem Diktat des Wachstums untergeordnet wird, hat er nur Verachtung übrig.

Thoreau kann auch als früher Vertreter des Umweltschutzes gesehen werden. Als wegweisender Kritiker des Anthropozentrismus war er schon damals überzeugt davon, dass nicht nur der Mensch Rechte besäße, sodass dieser die Natur mitsamt ihren Ressourcen keineswegs beliebig instrumentalisieren und ausbeuten dürfe. Seine ökologische Ethik verbindet den Umweltschutz deshalb untrennbar mit dem Glück des Menschen als integralen Bestandteils der Natur. Der respektvolle Umgang mit Tieren und Pflanzen führe letztendlich zu einem besseren Leben für alle Kreaturen. Kein Wunder also, dass Greenpeace in der Schweiz ein Online-Nachschlagewerk nach Thoreau benannt hat oder der BUND sich auf ihn beruft.

Sandro Abbate ist Kulturwissenschaftler, freier Autor und Blogger in der Freitag-Community

Auch 170 Jahre nachdem Thoreau sich in die Wälder zurückgezogen hat, werden seine Bücher immer noch gelesen. Und gerade Walden ist brandaktuell. Mehr denn je suchen Menschen heute nach Auswegen aus den Zwängen unserer Konsumgesellschaft. Plakativ verdeutlicht das etwa der Trend des sogenannten Digitalfastens. In Zeiten ständiger Erreichbarkeit wirkt der temporäre Verzicht auf Internet und Social Media schließlich schon wie ein halber Ausstieg aus der Gesellschaft. In den USA gibt es mittlerweile sogar „Digital-Detox-Camps“, in denen Menschen sich regelrecht vom Smartphone entgiften. Thoreaus Denken ist deshalb für all jene attraktiv, die einen eigenen Weg zu sich selbst und damit zur Veränderung der Gesellschaft finden möchten. Und das nicht als Aussteiger, der sich in der Wildnis isoliert oder in eine Kommune zurückzieht, sondern als aktives Mitglied der Gesellschaft. Thoreaus Schriften beweisen ihre Haltbarkeit nämlich im Kontext unterschiedlichster Bewegungen, die an der Gesellschaft von innen heraus arbeiten. Sei es bei kollektiv geführten Unternehmen und Nachhaltigkeitsaktivisten oder auch im Zusamenhang mit dem Urban Gardening. Dabei geht es jedoch nie um naive Weltflucht, sondern um den Versuch eines weitestgehend autarken und naturnahen Lebens. Denn auch Thoreau war letztlich kein Aussteiger im strengen Sinne. Selbst während seiner Zeit am Walden-See besuchte er fast täglich das nahe Städtchen, um Bekannte zu treffen oder seine Wäsche zu waschen.

Info

Alle Zitate aus : Walden. Ein Leben mit der Natur Henry David Thoreau Sophie Zeitz, Erika Ziha (Übers.), dtv 1999, 368 S., 9,90 €

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Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

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