Von einem, der auszog, um zu leben

Gesellschaftskritik 17o Jahre nach dem Walden-Experiment Henry David Thoreaus hat sich nicht viel zum Guten verändert und das Buch ist so aktuell wie eh und je

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

"Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde."

Mit Sicherheit ist Walden oder Leben in den Wäldern das bekannteste Werk Henry David Thoreaus. Es basiert auf den Tagebucheinträgen der zwei Jahre (1845-1847) , die Thoreau in einer Blockhütte am Walden-See verbrachte.

Statt mit dem Stock zu erziehen, gründet er eine eigene Schule

Thoreau erblickt am 12. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Concord, Massachusetts das Licht der Welt. Von 1833 bis 1837 studiert er in Harvard. Seine anschließende Stelle als Lehrer gibt er auf, weil er seine Schüler nicht, wie im 19. Jahrhundert üblich, mit dem Stock erziehen will. Also gründet er gemeinsam mit seinem Bruder John in seiner Heimatstadt eine Privatschule, in der er seinen Schülern unter anderem auch Fächer wie "Spaziergänge durch die Natur" anbietet.

1837 trifft Thoreau das erste Mal auf den Schriftsteller und Philosophen Ralph Waldo Emerson. Zusammen mit Amos Bronson Alcott, Margaret Fuller und George Ripley gründen die beiden 1840 die Zeitschrift The Dial (1840–1844). Der in dieser Zeit schon berühmte Emerson schreibt damals über Thoreau: "Ich habe Herzensfreude an meinem jungen Freunde. Nie, glaube ich, ist mir ein solch freimütiger, fester Charakter begegnet."

Zurück zur Natur

Am 4. Juli 1845 zieht Thoreau alleine in eine selbstgebaute Hütte auf Emersons Grundstück am Walden-See ganz in der Nähe seiner Heimatstadt Concord. Er lebt von dem, was der karge von ihm beackerte Waldboden hergibt. Ab und an angelt er Fische aus dem See. Die meiste Zeit verbringt er damit, zu beobachten und einfach intensiv zu leben. "Bisweilen saß ich an Sommertagen, wenn ich mein gewohntes Bad genommen hatte, vom Sonnenaufgang bis zum Mittag traumverloren im Sonnenschein auf meiner Türschwelle zwischen Fichten, Walnußbäumen und Sumach in ungestörter Stille und Einsamkeit, während die Vögel ringsum sangen und geräuschlos durch das Haus flatterten. Erst wenn sich die Sonne in meinem Fenster gen Westen spiegelte, oder das Rollen eines Reisewagens auf der fernen Landstraße erklang, kam mir der Gedanke, wie schnell die Stunden verflogen. In solchen Stunden wuchs ich wie der Mais in der Nacht. Sie waren auch weitaus besser angewendet als irgend ein Werk meiner Hände hätte sein können." Die damalige Arbeitswelt ist Thoreau zuwider. Er geht gar so weit und schreibt, dass derjenige, der einen Beruf ergreift, schon verloren sei. Die Erwerbsarbeit halte den Menschen von seiner natürlichen Bestimmung ab und die besteht nach Thoreau in der Beobachtung der Natur und dem Nachdenken. Darüber hinaus erkannte er schon zu dieser Zeit, in welche Richtung sich die Lohnarbeit entwickelt und prangert an, dass dem arbeitenden Menschen kaum mehr Muße bliebe und er keine Zeit mehr habe, etwas anderes zu sein als eine Maschine.

Teilzeit-Aussteiger

Auch 170 Jahre, nachdem Thoreau sich in die Wälder zurückgezogen hat, werden seine Bücher gelesen - allen voran Walden. Und ja, Walden ist immer noch brandaktuell. Manchmal scheint es gar, als sei es eben erst erschienen. Wir stecken immer noch tief oder noch viel tiefer in den Zwängen der Konsumgesellschaft. Und ebenso wie vor 170 Jahren suchen Menschen nach Auswegen aus dieser Gesellschaft. Ohne vollkommenen Ausstieg wohlgemerkt. Seien dies nun Kollektivisten, die neue Formen der Arbeit ausprobieren, Leute, die durch Urban Gardening die Natur in die Stadt zurückholen oder Social-Media-Nutzer, die Digitalfasten betreiben. Selbst als aktives Mitglied der Gesellschaft lässt es sich mit alternativen Formen zu leben experimentieren. Auch Thoreau war kein Aussteiger im eigentlichen Sinn, denn sogar während seiner Zeit am Walden-See besuchte er fast täglich das nahe Städtchen, um Bekannte zu treffen oder seine Wäsche zu waschen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden