Warum Böll heute aktueller denn je ist

100. Geburtstag Worüber würde Böll wohl heute schreiben, wenn er noch am Leben wäre? Stoff genug böte sich dem kritischen und engagierten Beobachter und Mahner.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Heinrich Böll, 1981
Heinrich Böll, 1981

Foto: Hoffmann, Harald / Bundesarchiv

Deutschland 2017. Das Land ist geprägt von tiefer Verunsicherung, Angst vor dem Terror und einer vielfach misstrauischen Stimmung gegenüber allem, was verdächtig scheint. Menschen, die sich als besorgte Bürger verstehen, meinen ihr Land nicht mehr wieder zu erkennen, sehen es im schlimmsten Fall gar am Rande eines Bürgerkrieges. Menschen geraten aufgrund ihrer Religion unter Generalverdacht, eine ganze Bevölkerungsgruppe wird argwöhnisch beäugt.

Deutschland 1972. Das Land wird mit dem Terror der Roten Armee Fraktion konfrontiert. Die Bevölkerung ist verunsichert, linke Gruppen und Aktivisten sind verdächtig und gelten schnell als Terrorsympathisanten. Heinrich Böll schreibt im Spiegel: „Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt. Es ist inzwischen ein Krieg von sechs gegen 60 Millionen. Ein sinnloser Krieg. Ulrike Meinhof will möglicherweise keine Gnade. Trotzdem sollte man ihr freies Geleit bieten, einen öffentlichen Prozess.“ Mit diesen Worten handelt sich der Kölner Schriftsteller teils heftige Kritik ein. Neben der Forderung einer fairen Behandlung für die aus dem Untergrund agierende Ulrike Meinhof hatte er der Springer-Presse vorgeworfen, Demagogie zu betreiben und die Stimmung im Land aufzuheizen.

Die heutigen Katharina Blums

Zwei Jahre nach seinem Artikel im Spiegel veröffentlich Böll den Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Im Mott des Buches schreibt er anklagend: „Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

Worüber würde Heinrich Böll wohl heute schreiben, wenn er noch am Leben wäre? Stoff genug böte sich dem kritischen und engagierten Beobachter und Mahner. Vielleicht hätte er einen Flüchtlingsroman geschrieben. Ja, vielleicht wäre ein Geflüchteter heute die neue Katharina Blum. In seinem damaligen Roman ging es darum, wie eine unbescholtene junge Frau Opfer der Berichterstattung der Boulevardpresse wird, weil sie einen Straftäter liebt. Die Verunglimpfungen reichen von dem Vorwurf, eiskalt und berechnend zu sein, bis zur Betitelung als Terroristenbraut. In der Folgezeit muss sie zahlreiche Anfeindungen und hasserfüllte Anrufe erdulden. Als schließlich ihre schwerkranke Mutter aufgrund der Ereignisse stirbt, tötet sie schließlich wuterfüllt und verzweifelt den verantwortlichen Journalisten.

Heute ist das Thema aktueller denn je – insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine Vielzahl der Menschen ihre Informationen nicht mehr durch klassische Medien, sondern zum Teil äußerst dubiose Plattformen im Netz erhalten. Dort werden Tatsachen verdreht, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien verbreitet. Es wird gehetzt was das Zeug hält. Und so wird der optimale Nährboden für Angst und Hass geschaffen, die Gesellschaft spaltet sich beinahe in „besorgte Bürger“ und „Gutmenschen“. Schon die Zeit des Deutschen Herbstes war von einer Polarisierung der Gesellschaft geprägt.

Engagierter Beobachter gesellschaftlicher Fehlentwicklungen

Der vor über 30 Jahren gestorbene Heinrich Böll war nie nur Schriftsteller, Intellektueller, Elfenbeinturmbewohner. Im Gegenteil, Böll verstand sich immer auch als Bürger, der durch sein humanistisches Engagement von sich reden machte. Und ebendies Engagement wurde ihm übel genommen – vor allem von Deutschlands konservativer Elite. Geistiger Urheber der RAF sei er, ein Sympathisant des „Linksfaschismus.“ Sein Haus in der Eifel wurde von der Polizei durchsucht, die Familien seiner Kinder unter polizeiliche Beobachtung gestellt. Die Zeitung „Quick“ schreibt gar: „Die Bölls sind gefährlicher als Baader-Meinhoff.“ Zur Gewalt der Medien sagt Böll 1972 auf dem SPD-Parteitag in Dortmund: „Es ist in den vergangenen Jahren in diesem Land viel Gewalt sichtbar geworden, viel über Gewalt gesprochen worden und geschrieben worden. Stillschweigend hat man sich darauf geeinigt, unter Gewalt nur eine, die sichtbare zu verstehen: Bomben, Pistolen, Knüppel, Steine, Wasserwerfer und Tränengasgranaten. Ich möchte hier von anderer Gewalt und anderen Gewalten sprechen … gegen die massive publizistische Gewalt einiger Pressekonzerne, die in erbarmungsloser Stimmungsmache die Arbeit erschwert und Verleumdungen nicht gescheut hat.“

Unbequem scheint Böll auch heute noch zu sein. Selbst in seiner Heimatstadt Köln ist die Erinnerung an ihn nicht sehr präsent. Der nach ihm benannte Platz in der Nähe des Rheinufers ist unscheinbar. Bei Konzerten in der sich darunter befindenden Kölner Philharmonie wird er abgesperrt, damit die Schritte der Fußgänger nicht die Musik stören. Böll hätte mehr verdient. Ob er es sich tatsächlich gewünscht hätte, ist eine andere Frage.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden