Zwischenruf aus dem Herz der Finsternis

Provinzverachtung Die Siegener Architektur schien eine Welt-Autorin so abzulenken, dass sie fast vergaß über den eigentlichen Grund ihres Besuches, die Heidegger-Tagung, zu schreiben

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Ich bin schon froh, dass ich kein Welt-Leser bin. Auch wenn es mir dadurch vermeintlich an etwas fehlt, um mich als Mann von Welt zu fühlen. So wie sich Hannah Lühmann, ihres Zeichens Feuilleton-Redakteurin der Welt, wohl fühlen muss.

Gewiss fällt es Berliner Journalisten mitunter schwer, die hippe Hauptstadt zu verlassen, um einen Artikel über eine philosophische Tagung irgendwo in der dunklen Provinz zu schreiben. Wie etwa die Tagung zu Heideggers "Schwarzen Heften" an der Universität Siegen. Schweren Herzens wohl machte sich die studierte Philosophin auf den Weg ins "Herz der Finsternis", wie sie in ihrem Artikel selbst schreibt. Bevor sie endlich zum Thema kommt, müssen wir über vier Abschnitte hinweg lesen, wie schrecklich Siegen doch ist. Eine Stadt, die aus Lagerhallen zu bestehen scheint, mit einer Innenstadt, die keine sei und Pizzerien, die nach Schwimmbad röchen.

Und so schafft Frau Lühmann es tatsächlich, bald ein Drittel eines Berichts über eine philosophie Fachtagung mit Siegen-Bashing zu füllen. Beim Lesen kommt einem unweigerlich der Gedanke, wie die arme Frau es nur drei Tage in dieser grässlichen Umgebung hat aushalten können. Und viel mehr noch frage ich mich persönlich, wie ich es die ersten 25 Jahre meines Lebens dort aushalten konnte. Wahrscheinlich ist man nach der Zeit abgehärtet.

Ihren Schilderungen zufolge scheint das Bild, welches sich die Welt-Redakteurin von Siegen gemacht hat, sehr umfassend gewesen zu sein: vom Bahnhof zur Universität und wieder zurück. Zugegeben, auf dieser Strecke sieht man nicht allzu viele schöne Dinge. Und wenn man die Strecke als betongrau bezeichnet, liegt man nicht ganz falsch. Die städtebaulichen Maßnahmen der 1960er und 1970er Jahre haben der Stadt alles andere als gut getan - in ästhetischer Hinsicht. Der Comedian David Werker machte 2010 einen überaus geistreichen Witz über Siegen, wo er Germanistik studierte. Angeblich seien die Bewohner Siegens befragt worden, was ihre Stadt schöner machen könne. Die meist genannte Antwort: "Ein Angriff aus der Luft?" Nun, den hat Siegen vor 70 Jahren bereits erlebt. Wahrscheinlich auch mit ein Grund, warum Siegen so aussieht wie es aussieht. Wie dem auch sei, städtebaulich scheint die Stadt einige Fehler der Vergangenheit eingesehen zu haben, denn Projekte wie die Neugestaltung des Sieg-Ufers setzen in dieser Hinsicht positive Signale.

Noch einmal zurück zur Heidegger-Tagung. Es tut mir schon fast Leid, dass die Teilnehmer Strapazen wie den Bus hinauf zum Uni-Gelände auf sich nehmen mussten. "In Siegen quält sich der Bus die Serpentinen zum außerhalb der Stadt gelegenen Tagungsort empor, einmal bleibt der Bus stehen, der Busfahrer schnellt von seinem Sitz auf und beginnt zu schreien, dass es einen ängstigt", heißt es in Lühmanns Bericht. Da kann ich schon verstehen, dass sie sich nach Ende der Tagung schleunigst auf den Weg zurück ins schöne, helle und bunte Berlin gemacht hat. Sonst wäre sie noch Gefahr gelaufen, die eine oder andere schöne Ecke in Siegen zu entdecken. Und worüber hätte sie dann schreiben sollen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sandro Abbate

Alltagshermeneut | Freier Autor | Kulturwissenschaftler | Blogger | novelero.de

Sandro Abbate

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