Damit sich Brüssel schämt

Mission Eine kleine Brandenburger Crew will mit ihrem Kutter Flüchtlinge vor Lampedusa retten
Ausgabe 14/2015

Harald Höppner steht an einem Anleger am Köhlfleet, einem Seitenarm der Elbe, in Hamburg-Finkenwerder. Gegenüber sind Hafenkräne zu sehen, am grauen Himmel Möwen. Der 41-Jährige trägt zwei Kapuzenjacken übereinander und abgetragene Jeans, er ist ein hochgewachsener Mann mit Händen, die nach Zupacken aussehen. Am schmalen Ponton festgemacht, 21 Meter lang, blau lackiert und mit weißen Lettern versehen, liegt das Schiff, das heute auf den Namen Sea Watch getauft werden soll. Das Boot soll Mitte April in Richtung Malta aufbrechen, das ein Dreieck bildet mit Lampedusa und der libyschen Küste.

Höppner ist Mitbegründer der Initiative Sea Watch, die Flüchtlingen helfen will. Wechselnde Besatzungen von maximal acht Personen sollen von Malta aus zwischen dem Westteil Libyens und der südlichsten italienischen Insel Ausschau halten. In dieser Gegend sind zurzeit die meisten Mittelmeerflüchtlinge in Richtung Europa unterwegs. Sie landen auf maroden Schiffen und überfüllten Schlauchbooten, wenn eines sinkt, überlebt kaum jemand. Es fehlt an Trinkwasser, Essen und Medikamenten. Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zufolge kamen allein im vergangenen Jahr 3.500 Menschen auf dem Mittelmeer ums Leben.

Schnell professionell

Höppner und seine Leute wollen vor allem die Küstenwachen Italiens und Maltas informieren. Viele Schiffsunglücke ereignen sich außerhalb der Küstengewässer, wo seit dem Ende von Mare Nostrum kaum noch jemand genauer hinschaut. Es ist, solange es keine Zeugen gibt, de facto dem Ermessen des Kapitäns überlassen, ob er den Menschen hilft. Sendet die Sea-Watch-Crew aber stellvertretend ein Notrufsignal an die italienische Küstenwache oder einen Frachter in der Nähe, sind diese offiziell informiert und damit nach internationalem Seerecht in der Pflicht, die Flüchtlinge einzusammeln. Für die Erstversorgung hat die Sea Watch Trinkwasser an Bord, Schwimmwesten und Rettungsinseln, auch ein Arzt soll immer zur Besatzung gehören. Außerdem wollen Höppner und seine Leute mit Kameras und über eine Internet-Satellitenantenne Bilder und Berichte liefern, um aus abstrakten Zahlen konkrete Fälle zu machen – und aus der entfernten „EU-Außengrenze“ das, was sie eben auch ist: unsere deutsche Grenze.

Wie wird einer, der sonst Bambusmöbel, Klangschalen und Räucherstäbchen verkauft, zum Aktivisten? Vergangenen Herbst saß Höppner in seinem brandenburgischen Dorf mit Freunden um den Küchentisch. Es gab Rotwein, im Fernsehen liefen die Bilder vom Mauerfall. Dazu erinnerte das Kunstprojekt „Zentrum für Politische Schönheit“ mit einer kollektiven Reise nach Bulgarien an die Todesopfer der EU-Grenzpolitik. „Man braucht nicht zu Hause zu sitzen und zu sagen: Es kotzt mich alles an“, da waren sich Höppner, seine Frau Tanja und ihr gemeinsamer Freund Matthias Kuhnt einig. Was sie brauchten, war ein Schiff. Von dem, was sie damit anstellen wollten, hatten sie nur eine vage Vorstellung. Kurz nach Weihnachten kaufte Höppner dann mit privaten Mitteln das Schiff, das einst als Fischkutter auf der Nordsee unterwegs war. Einen Monat später lag es in Hamburg. Schnell professionalisierte sich die Unternehmung: Anwälte, Kapitäne und Ingenieure gehören heute zum Projekt.

An Land bringen kann und will die Sea-Watch-Besatzung Menschen allerdings nur in Ausnahmefällen, für systematische Rettungen sei ihr Schiff zu klein. Anders als die Flotte der italienischen Operation Mare Nostrum, die zwischen 2013 und 2014 mehr als 150.000 Flüchtlinge vom Meer holte. Anders auch als der Frachter Cap Anamur, der 2004 in Seenot geratene Afrikaner nach Sizilien brachte. Ein italienisches Gericht eröffnete den Prozess gegen die Hauptverantwortlichen, ihnen drohten Haft und 400.000 Euro Bußgeld wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Erst nach Jahren wurden die Angeklagten freigesprochen. Eine rechtliche Grauzone erschwerte den Cap-Anamur-Prozess, meint Henning Jessen, Juniorprofessor für Seerecht an der Uni Hamburg: Das allgemeine Seevölkerrecht schreibt Skippern und Kapitänen vor, Menschen in Seenot zu retten. Der Seeschifffahrtsorganisation der Vereinten Nationen zufolge sind die Geretteten an einen „sicheren Ort“ zu bringen, einen Hafen also, an dem ihnen keine Gefahr für Leib und Leben droht. „Sicherer Ort“ – dieser Begriff lässt Raum für Interpretationen. Auch Höppner rechnet mit Klagen.

Ermutigung zur Flucht?

Ein Partner des Unterfangens ist Stefan Schmidt, der ehemalige Kapitän der Cap Anamur. Er ist auch zur Taufe gekommen und sagt: „Ich hoffe, dass sich Brüssel schämt, dass sie die Sache Privatpersonen überlassen.“ Auch mit Watch The Med arbeitet Höppner eng zusammen. Die Organisation bietet ein Notruftelefon für Migranten auf See, die von Küstenwachen keine Hilfe bekommen. Geht ein Anruf ein, setzt sich das Team so lange bei den zuständigen Stellen ein, bis Hilfe kommt.

Sea Watch hat auch Kritiker. Leute wie Höppner würden Menschen erst zur Flucht ermutigen, werfen ihm manche vor. „Ein vorgeschobenes Argument“, ärgert sich Höppner. Andere finden die kleine Crew naiv. „Was wollt ihr schon groß bewirken?“, werden die Aktivisten immer wieder gefragt. „Die Alternative ist“, er hält sich beide Hände vors Gesicht, „wir schließen die Augen und sagen, da ist nichts. Nein. Ich will nicht im Sterbebett liegen und sagen, ich habe es nicht versucht.“

Die Flagge mit dem hellblauen Logo ist gehisst, es kommen Crewmitglieder und Helfer, Journalisten und Sympathisanten. Ein Boot der Wasserschutzpolizei nähert sich, man möge doch bitte Rettungswesten anlegen. Also werden die Westen ausgepackt, die eigentlich Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahren sollen. Jetzt retten sie erst mal die Veranstaltung. Höppner steht mit der Sektflasche auf der Schiffsbrücke, holt aus. Das Glas zerschellt an der Bordwand.

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