„Näher als hier können Sie Neo Rauch nicht kommen“, scherzt Michael Ludwig. Der Pressesprecher des Leipziger Spinnereigeländes steht in der Halle 18 der einstmals größten Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas. Schon seit 1994 hat Neo Rauch, der bekannteste Vertreter der „Neuen Leipziger Schule“, hier sein Atelier. Wo genau, das erfahren die Besucher allerdings nicht. Rund hundert Künstler sind Mieter auf dem öffentlich zugänglichen Privatgelände ebenso wie elf Galerien, ein Kunstgroßmarkt, ein Kino, ein Café, Schmuck- und Modemacher.
Die Chance, Neo Rauch am kommenden Wochenende beim offiziellen Rundgang der Galerien zu begegnen, ist hoch: Er wird bei seiner Galerie Eigen+Art neue Arbeiten präsentieren. 2006 stellte er zum letzten Mal hier aus, mitten im Hype um die Leipziger Malerei. 15 Monate Zeit hat sich Rauch diesmal für die zehn Großformate und drei Grafiken in 35er Auflage genommen. Galerist Gerd Harry Lybke hat die Arbeiten im Atelier wachsen sehen: „Sie unterscheiden sich untereinander in Thema und Farbigkeit, wie es nur wenige Werkgruppen vorher getan haben.“ Eine Pressekonferenz gibt es nicht, auch keine Interviews. Bis zum letztmöglichen Zeitpunkt hat Rauch an den Bildern in Öl gearbeitet, erst zu Beginn dieser Woche wurden sie aus seinem Atelier in den Galerieraum getragen.
Hier begegnen uns nahezu lebensgroß fünf Erwachsene, die einen Kindergeburtstag zu zelebrieren scheinen – auf drei mal 2,50 Metern Leinwandfläche. Auch wenn sie uns weder als Rückenfiguren noch durch Blicke in ihre Mitte holen, so haben sie doch Platz gelassen in ihrer kreisförmigen Verteilung rund um den quadratischen Holztisch. Nur über zwei Spielzeugautos könnten wir stolpern: Ein schneeschieberähnliches Gefährt in Blau küsst ein rötliches, weiter hinten auf dem gelblichen Teppich kopulieren Vene und Arterie miteinander, während sich auf dem Tisch zwei Käfer beschnuppern – ebenfalls in Blau und Rot. Am rechten Bildrand ein gespenstischer Schatten. Weitere Gespenster werden uns in dieser Ausstellung begegnen, verspricht der Titel.
Herübergrüßende Dämonen
Das Treffen zeigt als erstes Pressebild ein rauchtypisches Setting, das an Träume und fragmentarische Erinnerungen denken lässt. Einzelne Personen meint man von älteren Bildern wiederzuerkennen, auch Streichholz und Türme entstammen dem Repertoire des 53-Jährigen. Auf den zweiten Blick fallen grüne Objekte auf, mit denen der kniende Mann im Hasenkostüm bis eben gespielt haben muss. Sie erinnern an Spielzeughecken auf Holzbrettchen. Vielleicht eine Referenz auf Hinter den Gärten – Titel der ersten Gemeinschaftsschau von Neo Rauch mit seiner Frau Rosa Loy 2011 im Essl-Museum bei Wien. „Hinter den Gärten, das sind die Bereiche, aus denen die Dämonen herübergrüßen“, sagte Rauch damals.
Dass die Ausstellung Gespenster eine taktische Maßnahme sei, um Neo Rauch nun wieder unabhängig von diesem Ausstellungsprojekt ins Gespräch zu bringen, lehnt Galerist Lybke entschieden ab: „Seine Bilder brauchen im Kern eine Energie, die ich nicht von außen steuern kann.“ Rauch selbst hatte den Wunsch jetzt auszustellen, und zwar bewusst in Leipzig und nicht in den Berliner Räumlichkeiten von Eigen+Art. Somit ist die Ausstellung auch eine Bestätigung seiner Verbundenheit zum Gelände. Denn auch wenn der große Boom um die Leipziger Malerei abgeflaut ist und es auch 23 Jahre nach der Wiedervereinigung in Leipzig nicht mehr als eine Handvoll Kunstsammler mit entsprechendem Kontostand wie Kunstsachverstand gibt – die Galeristen sind alle geblieben.
Die Leipziger Standortfaktoren, gerade im Vergleich zu Berlin, liegen für Gerd Harry Lybke auf der Hand: Der Ausstellungsraum ist größer, und ein öffentliches Schaulager ermöglicht es, alle Künstler der Galerie permanent zu präsentieren. Zudem hat Eigen+Art auf dem Gelände zwei zusätzliche Lager, und ein Großteil aller Transporte wird von hier abgewickelt. Auch die kurzen Wege in die Ateliers erleichtern das Alltagsgeschäft.
Und an einem normalen Samstag kommen bis zu 400 Besucher. So gesehen sind die Spinnereigalerien und ein nichtkommerzielles Kunstzentrum in der Halle 14 in ihrer Gesamtheit das bestbesuchte Museum der Stadt – bei freiem Eintritt und ohne ihnen die Aufgaben des Sammelns, Bewahrens und Forschens zuzusprechen. Auch zahlungskräftige Kunstsammler wie Thomas Rusche kommen bis zu fünfmal im Jahr hierher. Er schätzt das stressfreie Umherlaufen und die Möglichkeit, noch kurz in einem Atelier vorbeizuschauen. Zudem sind die Leipziger verlässlich: In Berlin wechseln die Galerien ihre Standorte in vergleichbarer Frequenz wie ihre Ausstellungen, sodass er es „weder zeitlich noch physisch“ schaffe, hinterherzukommen.
„Das Interesse an Leipzig wird stetig steigen“, ist Gerd Harry Lybke optimistisch, „weil es hier im Vergleich zur globalen Situation keine Überdimensionierung gab“. Künstler wie Neo Rauch arbeiten nicht mit einer riesigen Produktionskette, sondern können sich konzentriert zurückziehen. Übervolle Busladungen bleiben – noch – aus. So steigt Neo Rauch vor der Halle 18 auf sein Fahrrad und fährt vom Gelände. Die Besucher erkennen ihn nicht. Es ist kurz vor 18 Uhr. Feierabend.
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