Der 4. August 2020 sollte der schönste Tag ihres Lebens werden: Gegen 18 Uhr steht das Brautpaar mit einem Fotograf im Hof des Sursock Museums in Beirut, auf der Suche nach der besten Position für die Bilder, die ihre Erinnerungen für immer präsent halten. Stattdessen hat eine Überwachungskamera festgehalten, wie eine Druckwelle innerhalb von Millisekunden die grüne Hecke hinter ihnen erfasst. Die Braut stürzt zu Boden, die Gruppe versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Die Detonation von 2.750 Tonnen ungesichertem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen hat 216 Menschen das Leben gekostet. 6.000 wurden verletzt, 300.000 verloren ihr zu Hause. Bis heute sind die Ereignisse nicht umfassend aufgeklärt. Auf der 16. Biennale de Lyon vergegenwärtigt eine V
Lyon Biennale: Ein Glaubensbekenntnis zur Kunst
Ausstellung Bei der von Sam Bardaouil und Till Fellrath kuratierten Lyon Biennale steht das ästhetische Erlebnis wieder im Vordergrund. Ihr „Manifest der Zerbrechlichkeit“ überzeugt mit erfreulich zugänglichen Werken
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nicht umfassend aufgeklärt. Auf der 16. Biennale de Lyon vergegenwärtigt eine Videoinstallation von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige diesen apokalyptischen Tag: Zwölf Monitore zeigen die Bilder, die Überwachungskameras des Museums vom Zeitpunkt der Explosion um 18:05 Uhr festgehalten haben. Stehend inmitten der im Kreis angeordneten Kurzvideos werden Besuchende mit der unvorstellbaren Wucht konfrontiert, die auch viele Kunstwerke und die Infrastruktur des Museums binnen eines Augenblicks zerstört hat.Ein manifesto of fragility, ein Manifest der Zerbrechlichkeit haben die beiden Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath – seit Januar 2022 Direktoren des Hamburger Bahnhofs in Berlin – vor einem Jahr für ihre Biennale angekündigt. Schon damals schien der Titel angesichts von Covid-19 mehr als passend. Pandemiebedingt musste das wichtigste Event für zeitgenössische Kunst in Frankreich um zwölf Monate verschoben werden. 2019 waren fast 280.000 Besuchende gekommen – gut die Hälfte von ihnen unter 26 Jahre alt.Zwischen den Werken von 202 Künstler:innen aus über 40 Ländern werden im Laufe des Rundgangs zahlreiche Verbindungslinien deutlich, sei es in den groß angelegten Installationen auf den 29.000 Quadratmetern der zentralen Industriehallen oder an anderen sorgfältig ausgewählten Orten, die immer auch Stadtbefindlichkeit erzählen. Dazu gehören auch „Sites of interest“, die die Vergangenheit Lyons zum selbstverständlichen Bestandteil der Gegenwart erklären, darunter die Rue de la Quarantaine, benannt nach einem Krankenhaus, errichtet im 14. Jahrhundert, als die Stadt von mehreren Pestepidemien heimgesucht wurde.Die zwei Revolutionen der Louise BrunetVor drei Jahren haben Sam Bardaouil und Till Fellrath angefangen, für die Biennale zu recherchieren. In einem Lyoner Archiv begegneten sie Louise Brunet, einer junge Frau, die an der Revolution der Lyoner Seidenweber teilnahm und dafür 1834 ins Gefängnis kam. Briefe und Dokumente in den Archiven des französischen Außenministeriums in Paris und Nantes belegen, dass sie nach dem Absitzen ihrer Strafe mit nur 18 Jahren angeworben wurde, für eine Seidenfabrik im Libanon zu arbeiten. Mit dem Versprechen auf ein besseres Leben machte sie sich mit weiteren Frauen auf den Weg. Wenige Monate später beschreibt sie in einem Brief an ihre Schwester den schweren Alltag. Die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass Louise auch hier eine Revolution anzettelt und im Gefängnis landet. Danach verliert sich ihre Spur.Eine ganze Etage ist ihr im Musée d’Art contemporain de Lyon gewidmet, denn Louise Brunet stünde stellvertretend für so viele Menschen, erklärt Sam Bardaouil beim Presserundgang. Er kommt aus dem Libanon, ist promovierter Kunsthistoriker und hat als Schauspieler gearbeitet. Lauscht man seinen Erzählungen, hat man das Gefühl, einer Lecture Performance beizuwohnen. Er skizziert Louises Leben so anschaulich, als hätte er sie persönlich getroffen. Ein Buch, das die Recherchen zusammenfasst, wird im Oktober erscheinen. Er sei eben ein Nerd, erklärt er lachend und betont, dass er Louise nicht entdeckt habe, sondern ihr begegnet sei. "Encounters", Begegnungen – ein Wort das häufig fällt, wenn er und sein Co-Kurator Till Fellrath ihre Arbeitsweise beschreiben. Für die Biennale haben sie Louises Lebensweg fiktiv ins 20. Jahrhundert hinein fortgeschrieben: Auf den Wandtexten und Zetteln zum Mitnehmen ist sie mal Modell für Eugène Delacroix, Familienvater oder kämpft gegen AIDS. Fraglich, ob Besuchende diesem Storytelling folgen können, das der realen Louise ein wenig ihrer Kraft nimmt.Ausgehend vom Individuum verdeutlicht der zweite Bereich der Biennale am Beispiel Beiruts der Fragilität einer Stadt. Der Stadt, in der Louise Brunet 1838 ankam. Fünf sorgfältig kuratierte Kapitel verdeutlichen mit Kunstwerken und historischen Dokumenten die Entwicklung der Moderne in Beirut bis hin zum Bürgerkrieg – eine Erweiterung der Ausstellung Beirut and the Golden Sixties, die im Frühjahr 2022 bereits im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen gewesen war.Was für eine Erfahrung: Als sei alles unter Aschestaub gefrorenVon Beirut dehnt sich die Biennale konzeptuell auf den Rest der Welt und konkret auf die weiteren elf Standorte in der drittgrößten Stadt Frankreichs aus. Vereint unter dem Titel A world of endless promise zeugen die Werke mal thematisch, mal durch die Materialwahl vom kuratorischen Leitmotiv. In einer leeren Industriehalle hat Hans op de Beeck ein Stück lebensgroße Realität mit dem Einheitsgrau der meterhohen Wände überzogen: Ob Gartenlaube, Kinderschaukel, Bäume oder Wimpelkette – es scheint, als sei alles unter Aschestaub gefroren, seit Jahren unbenutzt, sich selbst überlassen. Allein für diese ästhetische Erfahrung lohnt der Trip nach Lyon.In der Haupthalle der 2015 stillgelegten Haushaltgerätefabri Fagor scheinen überdimensionale Eiszapfen bei den noch sommerlichen Temperaturen jeden Moment zu Schmelzen – zugleich sind die 100 Kilo schweren Gebilde aus Harz Träger gewebter Bilder von Klára Hosnedlová. Im Gallo-Römischen Museum, an der Stelle der 43 v. Chr. gegründeten römischen Stadt Lugdunum, steht ihre durch das einfallende Sonnenlicht in warmem Orange erleuchtete Installation aus Fell im Kontrast zur brutalistischen Architektur des 70er-Jahre-Baus. In der unterirdischen Betonkathedrale, die die Besuchenden gleich einer Grabungsbewegung in Serpentinen nach unten führt, fügen sich die Werke der Biennale als derart zarte Interventionen ein, dass man dem Haus wünscht, sie würden dauerhaft bleiben. Im Innenhof des Musée d’historie de Lyon versetzt die Soundinstallation von Hannah Weinberger die Besuchenden in die Rolle von Kollaborateuren und Co-Produzenten: Abhängig von unseren Bewegungen ertönen aus Lautsprechern in Echtzeit Radiosender von allen Orten, die von Frankreich kolonisiert wurden oder noch werden.Sam Bardaouil und Till Fellrath haben in den letzten 12 Jahren mit über 70 Institutionen weltweit zusammengearbeitet und Ausstellungen in führenden internationalen Museen kuratiert. Dass sie eine Präferenz für Kunst haben, die man erfassen kann, ohne erst eine halbe Stunde mit dem Lesen von Texten zu verbringen, macht diese Biennale mehr als deutlich. Nach diesem Kunstsommer, in denen vielen der Deutsche Pavillon von Maria Eichhorn bei der Biennale in Venedig zu trocken war und die documenta 15 von der Debatte um Antisemitismus überlagert wurde, steht bei der Biennale in Lyon wieder das ästhetische Erlebnis im Vordergrund. "Just believe in art" haben Unbekannte als Graffiti in roter Schreibschrift an verschiedene Orte in Lyon gesprüht, wohl bewusst zeitgleich zu den Preview-Tagen. Es könnte der Arbeitstitel für diese Biennale sein, die vom Glauben an die Kraft der Kunst zeugt.Zeugnis einer Jugend im Rhythmus von BombenReligion und Kirchenräume werden auch künstlerisch aufgegriffen: Mali Arun, geboren 1987 in Colmar, der Stadt des Isenheimer Altars, präsentiert ihre Videoarbeit Wunderwelten (Wonderland) als Triptychon in einer ehemaligen Jesuiten-Kapelle: Der Familienausflug in einen französischen Freizeitpark mit ausgestopften Dinosauriern, Geister- und Achterbahnen wird zum synästhetischen Alptraum. Annika Kahrs hat für ihre auf Kinoleinwandgröße präsentierte Videoarbeit Sängerinnen und einen Posaunenchor in eine Lyoner Kirche eingeladen. Und Young-jun Tak verdeutlicht in seiner gefilmten Tanzperformance die Parallelen zwischen der Berliner Kirche am Südstern und dem LGBTQIA+ Nachtclub SchwuZ: Zwei sehr konträre Kommunikationsräume, die ihren Besuchenden Komfort und Wohlbefinden für Geist und Körper bieten sollen.Auch die weiteren Werke im seit 2007 geschlossenen Musée Guimet überzeugen: Eröffnet 1879 zeigte es die persönliche Sammlung von Émile Guimet, ein Lyoner Industrieller, der zahlreiche Reisen in den Fernen Osten unternahm und Kunstschätze mitbrachte. Es war Brasserie, Theater und Eislaufbahn, bevor die Stadt es 1913 als Naturhistorisches Museum eröffnete. In einem dunklen Gang kann man mit der Handy-Taschenlampe noch Überreste von kleinen Dioramen erleuchten. Im beeindruckenden verstaubten Hauptraum mit Holzvitrinen und grünen Wänden hat Ugo Schiavi eine hybride Landschaft in überdimensionalen Glaskästen in die Höhe gebaut: Fossilien und Knochen verschmelzen mit menschlichen Überresten, während sich Kabel mit der Vegetation verflechten. Ein Blick in die Zukunft aus der Gegenwart.Der Gang durch das Hinterland des Museums führt vorbei an einem berührenden Video von Regisseurin Nadine Labaki, Komponist Khaled Mouzanar und Illustrator Jorj A. Mhaya. Die drei vereint ihre Kindheit im vom Bürgerkrieg geprägten Libanon. Die animierten Tuschezeichnungen in schwarz-weiß erinnern an die derzeitigen Nachrichten-Bilder und treiben mir schnell die Tränen in die Augen: Eine französische Erzählerstimme beschreibt aus der Ich-Perspektive all die Kriegsopfer, denen er in seiner Kindheit begegnet ist. Das Video, es ist ein Zeugnis der Grausamkeit des Krieges aus erster Hand. Zeugnis einer Jugend im Rhythmus von Bomben. Zeugnis von Leid und Schmerz, aber auch von Mut, Hoffnung und Widerstandskraft. Es ist der Inbegriff dieses Lyoner Manifests der Zerbrechlichkeit, das einen trotz aller Schwere gestärkt zurücklässt.