Wir sammeln Scherben

Abtreibung „Ciocia Basia“ unterstützt ungewollt Schwangere aus Polen. Unsere Autorin ist Mitgründerin
Ausgabe 35/2018
Gegen die frauenfeindliche Politik in Polen lässt sich viel einwenden
Gegen die frauenfeindliche Politik in Polen lässt sich viel einwenden

Foto: Jaap Arriens/Nurphoto/Getty Images

Eines der niederschmetterndsten Erlebnisse, die ich je hatte, war, eine Frau zu begleiten, die mit einer ungewollten Schwangerschaft im Kreißsaal lag. Als die Wehen gerade angefangen hatten, klingelte ihr Telefon. Sie unterhielt sich kurz, legte dann auf und sagte: „Das war meine Mutter, die ich sehr lieb habe, und ich kann ihr nicht sagen, dass ich gerade ein Kind bekomme.“ Eine junge Frau aus Polen mit streng katholischen Eltern. In der 23. Schwangerschaftswoche hatte sie uns von Ciocia Basia gefunden, nachdem sie – mittel- und hilflos – nicht wusste, an wen sie sich wenden konnte. Da es für alle legalen Fristen in Europa zu spät war, musste sie die Schwangerschaft austragen, um dann das Kind zur Adoption freizugeben. Wir haben sie vier Monate in Berlin vor ihren Eltern und ihren Freunden versteckt. Verbote in einem Feld wie Frauengesundheit bringen nichts Gutes, nur Einsamkeit, Schweigen und gefährliche Falschinformation. Das ist in Deutschland ebenso wie in Polen. Deshalb gründeten deutsche und polnische Aktivistinnen vor gut vier Jahren das Netzwerk Ciocia Basia. Es unterstützt ungewollt schwangere Frauen aus Polen dabei, in Berlin eine sichere Abtreibung zu haben.

Mutti vom Dorf, Studentin

Seither reisen durchschnittlich fünf Frauen im Monat mit unserer Hilfe nach Berlin. Die Bandbreite zeigt uns, dass ungewollte Schwangerschaft ein universelles Problem ist, einheitlichen Kategorisierungen entspricht es nicht. Zu uns kommen Studentinnen aus Warschau ebenso wie eine Mutter mit volljähriger Tochter aus einem polnischen Dorf. Frauen kommen mit Partnern oder Freundinnen, aber oft auch allein. Ein paarmal brachten sie sogar ihre Kinder mit, weil sie nicht wussten, wer sie während ihrer Reise hätte aufnehmen können. Gästezimmer in unseren befreundeten WGs finden sich für all diese Fälle immer. Die sehr unterschiedlichen Frauen, die auch aus allen Altersgruppen kommen, geben vielschichtige Einblicke, welche Lösungen Menschen finden, die Gesetzen ausgesetzt sind, die nicht ihrer Lebensrealität entsprechen. Wem kann man sich anvertrauen, wer leiht einem Geld, wer nimmt sich die Zeit, als Unterstützung mitzureisen? Vor welchen – eigentlich lieben – Freunden muss man sich doch verstecken, und welche Freundin gibt unverhofft den Hinweis auf unser Netzwerk, weil sie schon mal in der gleichen Situation war? Manchmal ruft der Partner für die Frau an, die sich selbst schämt, manchmal gibt die Frau uns die Telefonnummer ihrer Freundin als Kontakt oder schreibt uns nur aus dem Internetcafé, damit der Ehemann nichts davon erfährt. Vor kurzem reiste eine Frau mit ihrem Vater an, der mir erzählte, wie sehr er sich freue, dass seine Tochter sich ihm anvertraut hat. Jede Frau zeichnet ein eigenes Bild von Scham, Selbstbewusstsein, Einsamkeit und Wut. Manche Frauen verwünschen wutentbrannt die Scheinheiligkeit in ihrem Land, andere sagen uns, sie könnten gar nicht fassen, wie nett hier alle zu ihnen seien, während sie in ihrem Land wie Kriminelle behandelt würden.

Ciocia Basia (poln. für: Tante Barbara) besteht aus einem ehrenamtlichen Kernteam von etwa zehn Personen, die alle unbezahlt arbeiten. Wir koordinieren alle Termine und Gastgeber, Anreise und Finanzierung. Wir übersetzen und begleiten in die Familienplanungsklinik Balance, die eng mit uns kooperiert. Manchmal müssen wir Reisen nach Holland organisieren, wenn die Frau die Zwölf-Wochen-Frist nicht geschafft hat, das betrifft auch deutsche Frauen, um die 1.000 sind es im Jahr. Dann übernimmt unsere Kontaktgruppe in Holland, das Abortion Network Amsterdam.

Polen hat Mitte der 1990er Jahre Abtreibung illegalisiert. Dafür, nach dem Ende des Sozialismus eine „neue“ nationale Identität, nun geprägt von katholischen konservativen „Werten“, zu demonstrieren, kam die Kriminalisierung der Abtreibungen gerade recht, zudem als Dank an die Kirche, die die Solidarność-Bewegung unterstützt hatte. Am Beispiel Polen lässt sich gut nachzeichnen, wie Frauenleben ein symbolisch aufgeladener Spielball der Politik sind. Nun will die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Abtreibung sogar bei Gesundheitsproblemen der Frau und des Fötus illegalisieren. Nach massiven Protesten wurde der Plan wieder auf Eis gelegt , aber die Androhung der Gesetzesverschärfung zeigt furchtbare Wirkung. Frauen finden keine Ärzte mehr, die Abtreibungen bei schweren Beeinträchtigungen des Fötus durchführen. So sind Frauen gezwungen, eine Totgeburt bis zum Gebärtermin auszutragen, denn ihnen wird nicht gesagt, wo sie Hilfe finden können. Das ist körperliche und psychologische Folter. Innerhalb Polens kooperieren wir mit Gruppen, die ähnlich wie wir selbst organisiert sind, wie Abortion Dream Team, Dziewuchy Dziewuchom und Kobiety w Sieci, die praktische Hilfe bieten, Aufklärungsarbeit leisten und viele Demonstrationen für Abtreibungsrechte in den letzten Jahren mitorganisiert oder dafür mobilisiert haben.

Selbsthilfe mit Pille

Aber das Stigma der Abtreibung kann fatalerweise auch die Stimmung zwischen den verschiedenen Organisationen, die sich um Frauengesundheit kümmern, vergiften. Manchen Feministinnen gehen die provokanten Strategien jüngerer Frauen zu weit, da sie sich abmühen, auf einer sachlichen Ebene Gespräche über die Bedürfnisse der Frauen überhaupt wieder zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass viele Frauenorganisationen sich zum Thema Abtreibung öffentlich gar nicht mehr äußern, weil sie befürchten, ihre übrige Arbeit dadurch zu diskreditieren. Es geht um die Angst, sich angreifbar für konservative Politiker zu machen, die ihnen Gelder und andere Formen der Unterstützung entziehen könnten. Das Stigma der Abtreibung führt nicht nur dazu, dass die Lebensrealität von Frauen unsichtbar wird, sondern bewirkt auch, dass sich die Qualität der Frauengesundheit allgemein verschlechtert. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit, das bei ungewollten Schwangerschaften nicht endet. In Polen wurden Sexualaufklärung und Verhütung in Schulen mit dem konservativen Backlash aus dem Unterrichtsplan gestrichen. Wenn Sexualität und ihre Konsequenzen mit Schuld und Scham besetzt sind, wirkt sich das nicht nur auf den Stand von Aufklärung und Informiertheit aus, sondern schlicht auch auf die fachliche Kompetenz der Ärzte. Sie lassen sich in dem Bereich nicht fortbilden und können deshalb beispielsweise auch mit Fehlgeburten nicht gut umgehen. Weltweit zeigt sich, dass die Länder mit den striktesten Abtreibungsverboten jene mit den meisten ungewollten Schwangerschaften sind, denn es ist der Mangel an Aufklärung, der diese begünstigt, und nicht das Fehlen von Verboten.

Ein ganz anderer Effekt des Abtreibungsverbots zeigt sich darin, dass Frauen den Abbruch in der Illegalität zu ihren eigenen Bedingungen selbst gestalten, gerade weil er außerhalb eines medizinischen und moralischen Systems stattfindet, das ihnen suggeriert, kein selbstverständliches Recht auf ihre Entscheidung zu haben. Es schreibt Frauen vor, wie sie sich zu fühlen haben, welch einen Paternalismus und welch ein Spießrutenlaufen an Formalitäten mit Ärzten und Beraterinnen sie mitmachen müssen. Mittlerweile gibt es Frauengruppen in Polen, die den Abbruch in freundlicher, solidarischer, aber klandestiner Atmosphäre unter fachkundiger Anleitung mit der Abtreibungspille selbst organisieren. Die Abtreibungspille, die laut Weltgesundheitsorganisation sehr sicher ist und eine geringe Fehlerquote hat, ist ein Segen, denn sie kann auch außerhalb von Kliniken sicher angewendet werden. Wenn Leute sie reflexhaft als gefährlich darstellen, dann häufig, weil es ihnen Unbehagen bereitet, dass Frauen es mit Medikamenten nun selbst machen können. Frauen haben jeden Monat Krämpfe und Blutungen. Damit kommen sie klar. Und die Frauen sehen selbst, dass ein früher Abbruch vor der zehnten Schwangerschaftswoche eher einer Menstruation gleicht als – wie gern dargestellt – einer „Kindstötung“. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es ebendiese Erkenntnis ist, die man den Frauen nicht erlauben will. Ausgerechnet in der Illegalität, wenn Frauen es selbst organisieren müssen, bauen sie Strukturen dafür auf, diese Erfahrung zu ihren Bedingungen zu gestalten.

Neben der praktischen Hilfe ist unsere Arbeit zudem als Gegenerzählung zum Abtreibungsstigma wichtig, für die Frauen selbst und für die Gesellschaft. Denn nicht wenige Frauen gehen gestärkt aus dieser Erfahrung hervor, weil sie sich da ihrer Handlungsfähigkeit und ihres Rechts auf eigene Bedürfnisse bewusst werden. Organisierte Abtreibungsgegner haben uns bisher weniger ins Visier genommen, wahrscheinlich, weil wir die Barmherzigkeit zeigen, die christliche Fundamentalisten nur vorgaukeln. Die AfD in Berlin-Pankow hinterfragte in einer „Kleinen Anfrage“ die finanzielle Förderung des dortigen Frauenzentrums Paula Panke, wegen einer Einladung an mich. Ihre Argumentation war: Wenn man mich als „Abtreibungs-Aktivistin“ für einen Vortrag einlade, sei die „Neutralität“ des Zentrums nur gewährt, wenn auch Abtreibungsgegner eingeladen würden. Das ist ungefähr so, als würde man darauf bestehen, nicht nur Historiker zum Zweiten Weltkrieg sprechen zu lassen, sondern auch einen NPD-Politiker. Abtreibungsgegner operieren gern mit manipulativer Propaganda, indem sie behaupten, eine Abtreibung mache die Frauen depressiv und der Embryo sei bereits ein Subjekt mit Wahrnehmung und Gefühlen. Beides ist wissenschaftlich nicht haltbar.

In Polen wurde eine Aktivistin kürzlich verhört, dann aber freigelassen. Das war reine Einschüchterungstaktik, bislang noch ohne Konsequenzen. Wir Aktivistinnen machen den Scherbenhaufen von Politik, Kirche und Patriarchat direkt sichtbar, indem wir ihn aufsammeln. Noch scheuen sie die Auseinandersetzung mit uns.

Sarah Diehl ist Dokumentarfilmerin und Autorin. 2014 erschien ihr Sachbuch Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich

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