Gelieferte Fahrer

Lieferdienste Deliveroo zieht sich aus der Branche zurück. Die üblen Arbeitsbedingungen bleiben
Ausgabe 35/2019

Der Lieferdienst Deliveroo hat den deutschen Markt verlassen. Seit dem 16. August 2019 ist der Plattformkapitalismus hierzulande um einen großen Akteur ärmer. Ärmer? Ich selber habe im Winter 2017/18 für sechs Monate bei Deliveroo als Angestellte gearbeitet. Damals war mein Vertrag sachgrundlos befristet. Meine Kolleg*innen und ich mussten am eigenen Leib erfahren, wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind. Arbeitsmittel wie Fahrrad, Smartphone, Datentarif und Winterkleidung waren selber zu stellen, die Lohnzahlungen unregelmäßig und oft unvollständig. All das bewog meine Kolleg*innen und mich dazu, einen Betriebsrat zu gründen.

Als Deliveroo am 16. August aufgab, existierte kein Betriebsrat mehr. Alle Angestellten wurden durch Scheinselbstständige ausgetauscht, somit der Betriebsrat gleich mit entsorgt. Seit November 2018 bezahlte Deliveroo die Fahrer*innen nach einem variablen Kilometergeld. Damit noch genügend Fahrer*innen das Risiko auf sich nehmen, gab es einen Bonus von zwei Euro pro Auftrag nach 50 gefahrenen Aufträgen innerhalb eines zweiwöchigen Zeitfensters.

Vor Kurzem verkündete Deliveroo, man werde sich in Zukunft auf andere Länder konzentrieren. Warum? Weil dort die Fahrer*innen noch schlechter bezahlt werden können, um noch mehr Gewinn zu erwirtschaften. Deutschland ist nicht mehr lukrativ genug.

Doch die anderen sind ja noch da: Foodora zum Beispiel, das Anfang des Jahres von dem niederländischen Anbieter Lieferando gekauft wurde. Bis Ende Oktober sollen alle Strukturen von Foodora übernommen werden. Der Übergang ist das reinste Chaos, Fahrer*innen von Foodora, deren Verträge in Kürze auslaufen, haben Angst und sind verunsichert. Keiner kann genau sagen, ob sie verlängert werden und zu welchen Bedingungen. Bisher gab es bei Foodora eine kleine Entschädigung in Form eines Guthabens, welches bei LiveCycle eingelöst werden konnte. Fahrer*innen, die neue Verträge unterzeichnet haben, bekommen bei Lieferando nur 9,50 Euro statt der 10 Euro, die die alten Kollegen bekommen. Darüber hinaus gibt es keine Entschädigung mehr für den Verschleiß der Arbeitsmittel.

Wackeliges Geschäftsmodell

Auf den ersten Blick scheinen die Bedingungen bei Lieferando besser zu sein, doch die Wirklichkeit ist eine andere. Am 22. August, dem Riders’ Day, hörte ich selbst, wie auf einer Demo für bessere Arbeitsbedingungen in Berlin ein Fahrer aus Stuttgart vor dem Office von Lieferando das Wort ergriff und einen Appell an die Geschäftsführung richtete. Er sei am Ende seiner Kräfte, sagte er, im bergigen Stuttgart kämpfe man mit schwierigem Terrain, Lieferando stelle dort derzeit keine E-Bikes, was sich auf die Gesundheit auswirke. In der Freizeit habe er fast nur mit der Wiederherstellung seiner körperlichen Fitness zu tun, um am nächsten Tag wieder arbeiten zu können.

Der Riders’ Day hat mir gezeigt, wie motiviert die Fahrer*innen von Foodora und Lieferando sind. Fast 50 waren aus ganz Deutschland gekommen, um sich auszutauschen, neue Strategien zu entwickeln und um zu demonstrieren. Auch über den Tag hinaus merkt man den Kampfgeist dieser Zeit. Leider trauten sich nicht viele Lieferando-Fahrer*innen, zu kommen. Lieferando hat es angeblich seinen Mitarbeitern nicht erlaubt, daran teilzunehmen.

Es ist klar, dass wir mit unserer Initiative „Liefern am Limit“ zwar schon viel erreicht haben, aber dennoch weiterkämpfen müssen, damit alle Rider am Ende unter guten Arbeitsbedingungen auf der Straße unterwegs sein werden. Befristete Anstellungen schüren Ängste und erhöhen den Druck, keinen Fehler machen zu dürfen, geschweige denn einmal krank zu werden.

Noch vor wenigen Monaten hätte ich nicht erwartet, dass heute zwei Firmen, Foodora und Deliveroo, vom Markt verschwunden sein werden. Tatsächlich zeigt diese Entwicklung, auf welch wackeligem Geschäftsmodell der Sektor aufbaut. Nun ist es zwar eine Genugtuung, zu sehen, dass ein Unternehmen, welches durch Scheinselbstständigkeit Menschen ausbeutete, vom deutschen Markt verschwindet. Aber eigentlich sollte es darum gehen, zu verhindern, dass sich dies wiederholt. Dazu müsste die Politik neue Rahmenbedingungen schaffen und die Menschen dabei unterstützen, sich abgesichert in Arbeit zu begeben. Es bräuchte noch eine ganze Reihe an Maßnahmen, um die Fahrer*innen besser zu schützen: Die sachgrundlose Befristung gehört zu 100 Prozent abgeschafft. Gewerkschaften sollten ein Statusfeststellungsverfahren einleiten können. Die betriebliche Interessenvertretung benötigt besseren Schutz, auch für befristet Angestellte. Da viele Plattformen dennoch mit Solo-Selbstständigen arbeiten, ist es an der Zeit, dass diese in die Sozialversicherungssysteme einbezogen werden, also die gesetzliche Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. All das mit Beteiligung der Auftraggeber und paritätischer Kostenbeteiligung der Plattformen.

Das Schaffen von Ausnahmen für Solo-Selbstständige im Wettbewerbsrecht, um Zusammenarbeit und gewerkschaftliche Möglichkeiten zu kollektiven Verhandlungen und Interessenvertretung zu stärken, ist längst überfällig. Dazu gehörte eine Mindestvergütungsordnung, damit Ausfallzeiten, Urlaub und Krankheit abgedeckt werden können. Schließlich sollten Plattformen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte verpflichtet werden, was durch die Überwachungsmöglichkeiten der derzeit gängigen Apps nicht gegeben ist. Wenn all diese Regelungen geschaffen würden, wäre eine Ausbeutung über Plattformen kaum noch möglich.

Ich würde argumentieren: Die Plattformökonomie birgt Chancen und Risiken, sie bloß zu verteufeln, wäre falsch. Mit der richtigen Regulierung würden hier Arbeitsplätze geschaffen, die der Gesellschaft zugutekämen. Laut einer Studie des Arbeitsministeriums sind derzeit rund fünf Prozent der Erwachsenen in Deutschland auf Gig-, Click- oder Crowdworking-Plattformen aktiv. Dieser Anteil wird in Zukunft ansteigen und andere Arbeitsmodelle verdrängen. Wir Fahrer*innen haben gezeigt, dass wir uns organisieren können, dass ein Arbeitskampf auch mit Plattformen möglich ist. Und dass die Bottom-up-Bewegung unter den Fahrer*innen auch die Politik zum Handeln zwingen kann.

Sarah Jochmann ist Politische Referentin und Pressesprecherin bei der Initiative „Liefern am Limit“ in Köln

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