Ich mag das Hansaviertel, aber nicht den Diskurs. Ich will versuchen, mein Unbehagen zu schildern. Mein Blick kommt aus nachbarschaftlicher Randlage: Ich wohne auf der nördlichen Seite der Spree – in Moabit – in einer Straße mit Altbaubestand, wo im Krieg weniger Bomben fielen. Das historische Hansaviertel dagegen, in der Gründerzeit von einer hanseatischen Baugesellschaft auf der südlichen Spreeseite erbaut, wurde im November 1943 bis auf wenige Häuser zerstört und hinterließ eine ungeheure Brache. Die Stadt nahm sich – durch Ankauf und Enteignung von Grundstücken – den leeren Raum für einen großen städtebaulichen Entwurf. Das nannte sich Interbau 1957 – eine internationale Bauausstellung, die die Wohnkon
konzepte der Moderne präsentieren und die Wohnungsnot lindern sollte. Aufgeladen war das Projekt durch den Wettbewerb der Blockmächte. Dass die DDR-Führung geradezu stylish für die Masse bauen konnte, bewies sie mit der seltsamen Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee). Nun bewirbt sich die Stadt mit diesen beiden Baukomplexen aus der geteilten Stadt um einen Platz auf der deutschen Vorschlagsliste für das Unesco-Weltkulturerbe. Aber schert das die Anwohnenden im Hier und Jetzt?Im Alltag suche ich das Hansaviertel auf, wenn ich statt im Biosupermarkt, der auf unserer Spreeseite liegt, lieber im Rewe einkaufe. Er ist die Hauptattraktion des kleinen, baufälligen und herzerweichend tristen Einkaufszentrums oberhalb der U-Bahn-Station Hansaplatz.52 Männer durften bauenIch frequentiere auch den Papier-Post-Lottoladen mit seinem für Berliner Verhältnisse charmanten Personal, und ich suche auch gelegentlich den arschteuren Ökomarkt vor der St.-Ansgar-Kirche auf. Meine Kinder sind mit Kindern aus dem Hansaviertel zur Schule gegangen, haben im Turnverein in der Hansagrundschule getobt und sind ins legendäre Grips-Theater gegangen, das hier auch heimisch ist. Ich kenne viele der ungewöhnlichen Hochhäuser, die zwischen den Grünanlagen des Tiergartens thronen und in sogenannte Punkt- und Scheibenhochhäuser als auch in Zeilen- und Sonderbauten eingeteilt wurden. Die Akademie der Künste, der Englische Garten, die Bäume, Füchse und Kaninchen des Hansaviertels gehören auch zu meinem Alltag. Aber mich nervt der ästhetizistische, mit den Namen bedeutender Männer um sich schmeißende Diskurs über das Viertel. Werner Düttmann! Alvar Aalto! Arne Jacobsen! Max Taut! Oscar Niemeyer! Van den Broek und Bakema! 52 Architekten durften das Hansaviertel bauen, aber keine einzige Architektin wurde rangelassen – allein für diese zeittypische Einseitigkeit gibt es hoffentlich Punkteabzug beim Welterbe-Komitee.Vor lauter Namedropping wird vergessen, dass im Hansaviertel immer noch Menschen leben, die nicht jeden Morgen Design, Architektur und Kunstgeschichte frühstücken – und die trotz der Formenvielfalt die üblichen ungelösten Probleme erleben, die auftauchen, wenn öffentlicher Raum verwahrlost und die Bevölkerung sich zunehmend in Eigentümer und Mieter separiert.Unbestritten, dass in die Architektur überaus menschenfreundliche Ideen eingegangen sind. In der lichtdurchfluteten Hansabibliothek mit ihren herrlichen Stauden im Innengarten ist sofort spürbar, wie ein gemeinsam genutzter Raum funktionieren kann, für alle Altersklassen und unabhängig vom Geldbeutel. Dass die Hansabibliothek mit ihrer Fußläufigkeit und der Aufenthaltsqualität eines geschmackvollen Wohnzimmers das eigentliche Herz des Hansaviertels ist, leitet sich schon darüber ab, dass in den zierlichen Wohnungen kaum Platz für Bücherwände vorgesehen war. Und da kann man gerne lange über den verdienstvollen Architekten Werner Düttmann sprechen – aber wäre es nicht sinnvoller, den Geniekult etwas zu zähmen und über die Ideen zu sprechen, denen Düttmann gedient hat, und was sie uns heute – in unsere Lebenszwänge übersetzt – bedeuten könnten?Ich befürchte auch, dass das Label Weltkulturerbe der Berliner Politik ein Signal sein könnte, sich stolz zurückzulehnen und weiterhin zuzulassen, dass die vorrangige Ordnungsmacht, die sich hier durchsetzt, der Immobilienmarkt ist.Als Freunde von mir beobachteten, wie die Wohnungspreise im Van-den-Broek/Bakema-Haus nochmals anzogen und Besichtigungen einer zum Verkauf stehenden Nachbarwohnung bevorstanden, überlegten wir, wie man dem Hype in die Suppe spucken könnte. Aldi-Tüten an die Wohnungstüren hängen? Durchgetretene Oma-Hauspuschen und leere Kornflaschen auf die Fußmatten der Etage stellen? Satellitenschüsseln am Balkon zu befestigen ist hier aus Denkmalschutzgründen beziehungsweise seitens der Eigentümer grundsätzlich verboten – und damit ist diese Wohnlage auch eine fast migrantenfreie Zone.Der Blick changierte aber immer schon zwischen Anerkennung und Ablehnung, das verraten auch die Leserkommentare, wenn es in Beiträgen um das Hansaviertel geht. Die einen sehen Schönheit, andere wenden sich entsetzt ab.Vor knapp zwanzig Jahren kaufte eine Freundin für 10.000 Euro eine kleine Wohnung im „Holländerhaus“. Der Verkäufer aus dem Rheinland wollte die Wohnung dringend loswerden, er war überzeugt, die Immobilie liege in einem sozialen Brennpunkt und habe sich nur aus Versehen in sein Portfolio verirrt.Als der Suhrkamp-Verlag von Frankfurt am Main nach Berlin zog, führte ich ein Lektorenpaar im Hansaviertel herum, arrangierte auch die Besichtigung einer bewohnten Wohnung in dem auf V-Stelzen stehenden Oscar-Niemeyer-Haus. Die Frankfurter fanden die Wohnung und den Kult darum auch total prima, aber fremdelten doch sehr mit dem, was sie sonst noch sahen: aggressive Obdachlose, fehlende Läden, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten, die gruselige U-Bahn-Station. Auch bedrückte sie die seltsame Ruhe, die von der Lage am Tiergarten ausgeht und sie mehr an ein Sanatorium als an die Mitte der Hauptstadt erinnerte.Das größte Problem aber ist die organisierte Verantwortungslosigkeit, die sich durch die komplizierte Eigentümerstruktur des kleinen Einkaufszentrums am Hansaplatz ausdrückt. Einige Vermieter sollen Steuerflüchtlinge mit Offshore-Briefkästen sein, und deren Hausverwaltungen sind wenig motiviert, zum Gemeinwohl beizutragen. Die Läden decken kaum die Bedürfnisse der Anwohnenden, außer der Bedürfnisschwerpunkt liegt bei gekühltem Bier. Bei den Anwohnenden hat sich schon lange der Eindruck verfestigt, dass sich niemand zu kümmern scheint, wenn der Gehweg wegbricht, das Licht ausfällt, die Kacheln abplatzen.Und auch die Verkehrsplanung ist uninspiriert. Die Achsen rund um den Großen Stern, die auf zwei überdimensionierten Straßen ins Hansaviertel hineinragen, sind die reine Tristesse für alle, die sich nicht motorisiert bewegen. Ähnlich wie im Ostteil der Stadt muss man fragen, für welchen Fahrzeugtyp das gebaut wurde – für Panzer? Die Trecker demonstrierender Landwirte fühlen sich neuerdings sehr wohl hier.Poetische VerarschungZeitgemäße Ideen von Stadt sollten auch im Hansaviertel Platz bekommen, wie zum Beispiel Gemeinschaftsgärten, als Ergänzung und Erweiterung zum städtischen Gartenbau und auch als Klimaschutzmaßnahme. Die Bürger sind es leid, auf die neuen Wasserwagen der Stadtreinigung zu warten, wenn sie sehen, wie ihre Bäume und Sträucher vertrocknen, und es eigentlich nur öffentlich zugängliche Wasseranschlüsse und Schläuche bräuchte, um zu helfen. Denn Tatkraft gibt’s massig – und umsonst. Wir brauchen eine Infrastruktur des Do-it-Together. Und wenn wir schon beim Wünschen sind, braucht es außerdem selbstorganisierte Coworking-Spaces, mehr Läden für eigentümergeführten Einzelhandel und Raum für die dringend benötigten Handwerksbetriebe, die es in der Innenstadt kaum noch gibt.Wenn Gegenwart und Zukunft nicht integriert werden können in dieses ursprünglich als „Stadt von morgen“ ausgerufene Hansaviertel, dann ist es nur ein Relikt der Geschichte – und dient vielleicht noch zur poetischen Verarschung im Fließtext einer Immobilienanzeige.Placeholder authorbio-1
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