Schon am frühen Nachmittag des 8. April zeichnet sich die erstaunlich hohe Wahlbeteiligung ab. Um 13 Uhr melden die ungarischen Wahlbüros, man sei schon bei 42 Prozent. Gegen Abend wird der Andrang so groß sein, dass Wahllokale in Budapest bis in die Nacht geöffnet haben. Ein gutes Zeichen, glaubt die Opposition zunächst. Die Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) könne nur auf zwei Millionen Wählerstimmen zählen, hieß es im Vorfeld dieses Votums. Gábor Vona, Parteichef der rechtsextremen Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn), beschwor eine magische Grenze: „Wenn die Wahlbeteiligung über 70 Prozent liegt, wird Fidesz keine Regierungsmehrheit mehr haben.“ Es kommt ganz anders. Obwohl (oder weil?) 70 Prozent der Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, verbucht Fidesz gut 49 Prozent der Stimmen, kommt zu einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und kann Verfassungsänderungen beschließen. Was ist passiert in Ungarn?
Eine Erinnerung an den 15. März in Budapest, den Nationalfeiertag, kann helfen, Erklärungen zu finden. In Kispest spürt man an diesem Tag keine Festtagsstimmung.Der 19. Budapester Bezirk wirkt verschlafen, Regen tropft auf den Asphalt, es ist kaum jemand unterwegs, auch nicht am zentralen Platz des Arrondissements, der von Károly Kós, einem ungarischen Architekten aus Siebenbürgen, entworfen wurde und eine transsilvanische Handschrift trägt. Lajos steuert ein kleines Café an. Seinen wirklichen Namen will der 37-Jährige nicht in der Zeitung lesen, arbeitet er doch für die ungarische Regierung. Lajos ist groß und schlaksig, dazu altmodisch gekleidet, am Mantel trägt er einen Anstecker in den ungarischen Nationalfarben. Bei den Parlamentswahlen, sagt Lajos, werde er seine Stimme der Jobbik geben, obwohl er kein typischer Anhänger dieser Partei sei. Es werde keine Stimme für Gábor Vona, sondern eine gegen Viktor Orbán sein.
Jobbik soft
Einige Gründer von Jobbik kennt Lajos persönlich, er hat mit ihnen an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest studiert, einer Kaderschmiede der Partei. Er hat erlebt, wie aus der konservativen Studentenbewegung vor knapp zwei Jahrzehnten eine radikale Partei wurde. Und heute? Jobbik, die noch 2014 mit antisemitischen und xenophoben Äußerungen für Schlagzeilen sorgte, gab sich in den vergangenen Jahren moderat und pro-europäisch. Man ging auf Distanz zu vorherigem Extremismus. Lajos lächelt, dies sei ein Spiel. „Eine Strategie, die vom Vorsitzenden Gábor Vona kommt, aber sie gefällt nicht allen in der Partei.“ Die Ideologie bleibe dieselbe.
Ähnlich sieht das Bulcsú Hunyadi, der als Analyst für das Recherchezentrum Political Capital arbeitet. „Die Partei hat begriffen, dass man mit radikalen Botschaften nur eine begrenzte Zahl an Menschen erreichen kann“, resümiert er. Zudem greife die Regierung Orbán selbst seit 2015 auf eine aggressive Anti-Migrations-Rhetorik zurück. „Jobbik hat erkannt, dass es unmöglich ist, in dieser Frage noch radikaler zu sein. Deshalb rücken sie in die politische Mitte“, so Hunyadi. „Wenn Vona mit seiner Strategie scheitert, wird er von der Parteispitze zurücktreten“, glaubt Lajos, der Historiker. Und er soll recht behalten. Bereits am Wahlabend gibt der Jobbik-Chef seine Demission bekannt. Mit gut 20 Prozent konnte er den 50-Prozent-Triumph von Fidesz nicht verhindern, eine klare Niederlage. Jetzt die moderate Strategie wieder aufzugeben, das werde Jobbik wenig bringen, heißt es nach der Wahl bei Political Capital. „Fidesz besetzt bereits die rechtsextremen Positionen.“
Später am Abend jenes 15. März sitzt Ana in einem Bistro in Budapest, mitten im alternativen Szeneviertel. Braune Haare, Pagenkopf, dezenter Schmuck, eloquent. Die Straßen sind voll, ein Gegenbild zur ruhigen Vorstadt. Die 35-jährige Juristin nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas. „Orbán hat es übertrieben“, stellt sie fest. Ana kommt aus einer rechtskonservativen Familie, früher hat auch sie Fidesz gewählt. Bis zur Wahl 2014. Heute versucht sie, Familienmitglieder davon zu überzeugen, gegen Orbán zu stimmen. „Er hat die Kompetenzen des Verfassungsgerichts eingeschränkt und die Verfassung umgeschrieben. Er kontrolliert weite Teile der Medienlandschaft und betreibt aggressive Anti-Migrations-Kampagnen. Es ist eine Politik der Angst.“ Irgendwann habe die Regierung ihren Sinn für die Realität verloren, so die Juristin. Orbán habe am Volk vorbei regiert.
Aber wie kann jemand, der „am Volk vorbei regiert“, so viele Menschen für sich gewinnen? Schaut man sich die Wahlergebnisse in den einzelnen Regionen an, ist fast das ganze Land in Orange getaucht, der Farbe der Fidesz. Budapest bildet eine Ausnahme. „Die Lücke zwischen der Hauptstadt und dem ländlichen Raum ist enorm“, schreibt Political Capital in einer ersten Wahlanalyse. Immerhin 12 von 14 in Budapest zu vergebenden Direktmandaten haben linke und liberale Oppositionsparteien gewonnen. So bleibe als Fazit, dass der Fidesz-Erfolg im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen sei, heißt es bei Political Capital. Das politische Umfeld, das die Partei seit 2010 aufgebaut habe, gewähre der Opposition keine Chancengleichheit. Dabei gehe es weniger um das Wahlsystem, sondern um die Institutionen ringsherum. Die OSZE-Wahlbeobachter kommen zu einem ähnlichen Urteil, wenn sie feststellen, Staat und Regierungspartei seien während des Wahlkampfes geradezu unzertrennlich gewesen.
Allzu häufig sind zudem Korruptionsfälle, die mit der Regierung in Verbindung standen, von den Behörden nicht weiterverfolgt worden. „Das mediale Umfeld in einigen Teilen des Landes, vor allem in Kleinstädten und Dörfern, hat ein Informationsghetto geschaffen, in dem nur Kampagnen der Regierungspartei erfolgreich sein konnten“, schreibt Political Capital. Die hätten sich darauf konzentriert, „die Ängste der Bevölkerung mit Anti-Migrations-Botschaften zu schüren“.
Ein zweiter Erfolgsgarant der Fidesz ist eine homogene Wählerbasis, auf die man sich seit Längerem verlassen kann. Demgegenüber ist die Opposition zersplittert und zerfällt im linken Lager in etliche Kleinparteien, die miteinander konkurrieren. Ohnehin begünstigt das Wahlsystem die großen Parteien. 106 der 199 Sitze im Parlament werden über Direktmandate in den Wahlbezirken vergeben. Da sich die Oppositionsparteien zu keiner Wahlallianz durchringen konnten, war es für Fidesz-Bewerber ein Leichtes, sämtliche Direktmandate zu gewinnen.
Der Regierung kommt auch zugute, dass die Löhne in Ungarn mit durchschnittlich 950 Euro pro Monat innerhalb der EU zwar niedrig liegen, aber derzeit steigen. Außerdem herrscht fast Vollbeschäftigung. „Die Menschen haben Angst, dass man ihnen etwas wegnimmt“, meint Bulcsú Hunyadi. Das schaffe einen fruchtbaren Boden für xenophobe Neigungen, auch für Misstrauen gegenüber der EU. „Seit dem Regimewechsel 1990 haben sich die Lebensbedingungen für viele Ungarn lange Zeit nicht verbessert“, so der Analyst. Viele Politiker hätten die Desillusionierung genutzt, um Brüssel den Schwarzen Peter zuzuschieben. „Die Menschen erwarten nun einmal von der EU, ihre Lebensumstände spürbar zu verbessern. Eigentlich wäre dafür die Regierung verantwortlich.“
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