Sonntags bei Familie Schmidt: Wenn die Söhne Eric und Dustin noch schlafen, verlässt Mutter Anett die Wohnung. Manchmal hat sie Glück und die beiden sind noch nicht auf, wenn sie wiederkommt. Dann hat die Alleinerziehende bereits drei Stunden häuslichen Pflegediensts hinter sich, hat 20 Minuten lang einen bettlägerigen Mann gefüttert, zehn Minuten eine ältere Dame auf die Toilette begleitet, Patienten in Rollstühle gehievt, sich mit einer demenzkranken Frau unterhalten, Akten ausgefüllt, Wasch- und Wickelvorgänge dokumentiert. Zu Hause bereitet sie dann das Mittagessen vor, bevor sie am Abend noch einmal los muss zu den Patienten. Wenn sie später dann müde nach Hause kommt, ist der neunjährige Dustin noch wach. „Er wartet, weil er mir von seinem Tag erzählen will“, sagt Schmidt. „Die Jungs kommen immer irgendwie zu kurz.“
Familienfreundlich ist das nicht. Trotzdem nennt ihre Betreuerin Susann Müller es eine Erfolgsgeschichte in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn bevor sie im vergangenen Herbst als Pflegehelferin im brandenburgischen Finsterwalde anfing, war Anett Schmidt zwölf Jahre lang mit ihren beiden Söhnen zu Hause – ohne Aussicht auf eine feste Anstellung. Als Eric, der heute 16 ist, geboren wurde, war sie gerade 18 und musste ihre Ausbildung in Hauswirtschaft unterbrechen. Die machte sie zwar später zu Ende, dazwischen lagen aber mehrere Erziehungsjahre. Hinzu kam die Arbeitslosigkeit im Ostdeutschland der neunziger Jahre. Mit dem Berufseinstieg klappte es einfach nicht. Auch wegen der Kinder.
Die erste richtige Stelle
Schmidt machte Aushilfsjobs, Praktika, Maßnahmen. „Irgendwann habe ich nicht mehr geglaubt, dass ich noch mal Arbeit kriegen würde“, erzählt sie. Das Jobcenter glaubte das wohl auch nicht. Sonst hätten sie Schmidt kaum zu Susann Müller geschickt. Müller, ebenfalls alleinerziehend, ist Mitarbeiterin einer Agentur für Regionalentwicklung. Sie setzt dort an, wo Jobcenter kapitulieren: Sie hilft Alleinerziehenden, eine Arbeit zu finden, oft ihre erste überhaupt.
Seit 2009 schreibt Müller mit ihnen Bewerbungen, simuliert Vorstellungsgespräche, übersetzt die Bürokratensprache der Jobcenter für sie. Über 100 Frauen und einigen wenigen Männern hat Müller im Rahmen der Initiative „Balance“ seitdem beim Wiedereinstieg ins Arbeitsleben geholfen. Rund die Hälfte von ihnen hat heute einen sozialversicherungspflichtigen Job, andere machen eine Ausbildung, ein Praktikum oder einen Minijob. Gerade ist das Nachfolgeprojekt gestartet, „Balance II“.
Balance. Das steht für ein ausgewogenes Leben mit Kindern und Karriere, was vor allem für alleinerziehende Frauen nicht selbstverständlich ist. In Deutschland lebt fast jede fünfte Familie mit nur einem Elternteil. Und weil es in dieser Situation besonders schwierig ist, das Gleichgewicht zu halten, brauchen 41 Prozent von ihnen Hilfe vom Staat. Das Problem der Vereinbarkeit trifft bei Weitem nicht nur Frauen, die schlecht ausgebildet oder alleinerziehend sind. Wer vom Elternabend bis zum Babysitter für die spontane Dienstbesprechung alles selbst organisieren muss, dem geht schnell die Puste aus.
Ein Heer von Projektagenturen, Universitäten und sozialpädagogischen Einrichtungen entwickelt deshalb in Deutschland Methoden, um Alleinerziehende am Markt zu „implementieren“, wie es in Projektanträgen gerne heißt. Die Wirtschaft, der die Fachkräfte ausgehen, hat bereits das Zauberwort gefunden: Flexibilität.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert derzeit 156 Programme, die sich dem Thema Vereinbarkeit annehmen. Sie haben Namen wie „FlexPro“ oder „Flex4Work“, und manche bieten durchaus unkonventionelle Lösungen an. Das Projekt „FlexiBalance“ etwa, das Berliner Alleinerziehende in Teilzeit und Leiharbeit zu Erzieherinnen ausbildet. Auf den ersten Blick ist es eine ökonomische Fliegenklatsche, mit der man alles gleichzeitig erledigen kann: die Arbeitslosigkeit der Alleinerziehenden, ihre Arbeitszeiten-Wünsche, den akuten Erzieherinnenmangel in den Kitas. Und vor allem die Nachwuchssorgen bei der Zeitarbeitsfirma Manpower, die FlexiBalance begleitet.
Finanzielle Sackgasse
Die Investition könnte sich durchaus lohnen. Die Bereiche Erziehung und Pflege, das ist abzusehen, werden weiter boomen. Hendrik Laxa von Manpower möchte das Problem der Alleinerziehenden also marktwirtschaftlich lösen. Er stelle, sagt er, Alleinerziehende schließlich nicht „aus Nächstenliebe“ ein. Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter ist skeptisch. Was ökonomisch logisch scheint, kann für viele Alleinerziehende eine finanzielle Sackgasse sein. Anett Schmidt muss dafür nur einen Blick auf ihr Konto werfen. Trotz ihrer Festanstellung bei einem Pflegedienst und 30 Stunden Schichtarbeit kommt sie monatlich auf weniger als 900 Euro, vor Steuern. An Sonntagnachmittagen schreibt sie weiterhin Anträge auf Wohngeld.
Balance, das klingt nach Yoga-Mutter, die freudig Vollwertessen kocht. In Finsterwalde rechnet Anett Schmidt jedesmal nach, ob sie ihrem Großen einen Döner für drei Euro kaufen kann. Und Urlaub hat sie mit ihren Söhnen noch nie gemacht. „Wir Muttis“, sagt sie wie zur Entschuldigung, „wir haben eigentlich nie frei.“
Die Projekte, die Balance im Namen tragen, haben keine Mutter, sondern eine Familienmanagerin vor Augen. Ein Leben, in dem jede Minute durchgetaktet ist. In dem Frauen unabhängig vom Jobcenter werden sollen, aber in dem ein Stau auf dem Weg zur Kita die Tagesplanung durcheinanderbringt und Herzrasen auslöst.
Den Einstieg hat Schmidt geschafft, und alle, vor allem Eric und Dustin, freuen sich, dass ihre Mutter jetzt „richtige Arbeit“ hat. Es darf bloß nichts dazwischenkommen. Schon gar nicht das Leben. Es würde sie nur stören, die Balance.
Sarah Schaschek hat in Brandenburg ihre journalistische Ausbildung gemacht. Sie hat noch keine Kinder
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