Die Hölle sind die anderen

Rape Culture Es ist ganz normal, dass Frauen sich selbst darum kümmern müssen, nicht zum Opfer zu werden? Das zeigt nur, wie absurd unsere Vorstellung von Normalität ist

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Nein heißt Nein. Punkt
Nein heißt Nein. Punkt

Foto: imago images / IPON

Ein Gefühl von Ohnmacht. Ohne Macht zu sein, ohne die Möglichkeit, etwas zu tun, wenn man es will, und auch wenn man es unbedingt will – das ist eines der schlimmsten Gefühle, das wir kennen. Und doch ist es nicht ungewohnt. Es ist nicht ungewohnt, wenn du eine Frau bist, wenn du zu einer marginalisierten Gruppe gehörst, dann kennst du es leider zu gut.

Eine Freundin erzählt mir, dass ihr jemand KO-Tropfen ins Getränk getan hat, als sie unterwegs war. Sie hatte eine Freundin dabei – zum Glück, wie später alle sagen –, die sie da raus gezogen und nach Hause gebracht hat. Und doch bleibt das Gefühl von Verletzung und Verletzlichkeit. Und von Verrat, denn sie kennt den Mann, und er kennt sie. Sie geht zur Polizei, denn das gehört dokumentiert, denkt sie sich, um Schlimmeres in Zukunft zu verhindern. Natürlich machte sie sich Gedanken, denn es ist klar, dass viele sagen werden, es sei doch alles gut gegangen. Und ein bisschen glaubt sie das selbst schon fast. So sehr hat sie den Diskurs verinnerlicht.

Auf der Polizei, da kommt es dann tatsächlich so. Die einzige, die ihr zuhört, ist eine Polizistin. Sie notiert sich wenigstens, welche Bar es war und wann es passiert ist. Der erste Polizist, den sie anspricht, geht erst mal eine rauchen. Was will sie denn hier, es ist doch nichts passiert, sie hätte doch Glück gehabt. Was sollen sie dann machen? Es gäbe schließlich keine Beweise. Es gäbe nicht einmal etwas anzuzeigen.

Ein Gefühl von Ohnmacht. Dass man Glück haben muss, das sollte doch nicht sein. Natürlich, irgendwie war es Glück im Unglück, aber eigentlich auch nicht. Es war einfach nur falsch. Eigentlich sollte es normal sein, dass sie es anzeigen will, dass sie mitdenken will. Für andere, die noch kommen. Wir denken mit, wenn wir etwas erleben – wie das weitergehen wird, wie das für andere sein wird. Wir wollen nicht, dass andere durchmachen müssen – meist andere Frauen –, was wir erlebt haben. Und deshalb sind wir solidarisch.

Doch dieses Solidarischsein, das wird uns manchmal verdammt schwer gemacht. Und dabei sollte es selbstverständlich sein und geachtet und unterstützt werden. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Oder auch nicht. Vielleicht haben sie nur ausgesprochen, was ohnehin ein Teil derjenigen gedacht hat, die die Geschichte gehört haben.

Frau kann es nicht richtig machen

Eigentlich kann frau es nicht richtig machen. Wenn du erzählst, wenn du den Mund aufmachst, wenn du anzeigst und sprichst und kämpfst, dann nimmt es keiner ernst. Wenn es „gut ausgegangen“ ist, fragen sie dich, was du denn eigentlich willst. Es sei doch nichts passiert, du hast doch Glück gehabt. Und überhaupt, es gäbe viel Schlimmeres. Doch das ist kein unbekanntes Phänomen – auch „wenn tatsächlich etwas passiert ist“. Denn wenn es um Belästigung und Missbrauch und Vergewaltigung geht, auch dann zieht sich diese Herablassung durch die Geschichten von Opfern, von Frauen, die versucht haben, anzuzeigen. #MeToo oder #WhyIDidntReport haben es eindrücklich bewiesen.

Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Wir kennen die Geschichten. Wir überlegen uns zweimal, dreimal, hundertmal, bevor wir den Kampf aufnehmen. Bevor wir die Anstrengungen auf uns nehmen, zu reden, den Mund aufzumachen, anzuzeigen, zu sprechen, zu kämpfen. Und das vielleicht umsonst, wenn die Ohnmacht wieder zuschlägt.

Doch auch wenn du schweigst, die Kraft nicht hast, den Mund aufzumachen, anzuzeigen, zu sprechen, zu kämpfen, auch dann wird dir irgendwann jemand vorwerfen, du seist doch selbst schuld, wenn du nicht den Mund aufmachst. Dann argumentieren sie, es sei doch einfach, das nach sexueller Belästigung oder Missbrauch oder Vergewaltigung zu tun. Normal, man müsse das anzeigen. Warum hast du das denn nicht gemacht? Das wäre doch „normal“.

Auch hier zeigt sich krass – gerade bei Bewegungen wie #MeToo oder #aufschrei –, wie Menschen nicht verstehen wollen, was das alles bedeutet. Was es bedeutet, die Schuld immer erst mal bei sich zu suchen, sich nicht sicher zu sein, oder nicht darüber reden zu können, und nicht zu wollen, und nicht zu dürfen.

Schuld ist immer die Frau

Gleichzeitig hat sich die Idee, dass Frauen durchaus ihren Anteil daran haben, wenn sie sexuell belästigt oder missbraucht oder vergewaltigt werden, tief in vielen Köpfen festgesetzt. Victim blaming, das ist ein wunderbarer Mechanismus, die Schuld von sich zu weisen. Von denjenigen, die sich falsch verhalten haben, die die Verantwortung übernehmen müssten. Aber natürlich ist es bequemer, die Schuld bei denjenigen zu suchen, die nicht in der Machtposition sind, sich zu wehren und zu behaupten.

Wenn der Rock angeblich zu kurz, die Frau zu betrunken, die Blicke zu zweideutig waren, gehen viele gerne mal über das Nein hinweg, über die abweisende Haltung, über eindeutige abwehrende Sätze und Taten und Signale, die ja auch ein Ja verpackt in einem Nein gewesen sein könnten. Diese Erklärung ist viel zu schön, um sie aufzugeben. Und sie deckt diejenigen, die im Patriarchat ihre Position und Interpretation der Wirklichkeit bequem durchsetzen können.

Dann sind es natürlich die Frauen, die vorsorgen müssen, für sich selbst sorgen müssen, am besten alleine und am besten immer. Es sind die Frauen, die nachts nicht alleine heimgehen. Die sich in Gruppen zusammenschließen, um von A nach B zu kommen. Die sich überlegen, was sie anziehen können und was nicht. Wo sie alleine hinreisen und sich aufhalten können. In welcher Gesellschaft sie trinken und Spaß haben und sich fallen lassen können.

Es ist verdammt anstrengend, immer wachsam, immer vorsichtig, immer misstrauisch sein zu müssen. Es tut weh, Menschen zu misstrauen, misstrauen zu müssen, die man noch nicht kennt. Oder denen, die man vielleicht ein bisschen kennt. Und eigentlich sogar denen, die man kennt. Denn wenn es doch mal die Falschen waren, wenn es doch mal passiert, dann bist du selber schuld. Dann suggerieren sie dir, du hättest aufpassen müssen. Warum hast du denn getrunken, warum warst du denn bei diesen Leuten? Es ist absurd. Es ist so absurd.

Was wir Normalität nennen

Ein Gefühl von Wut. Dieses Konstrukt, es heißt Rape Culture. Und es verletzt und tötet, innerlich und äußerlich. Sexuelle Belästigung, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung stehen immer als Option im Raum, müssen immer mitgedacht werden, müssen präventiv mit allen Mitteln vorgesorgt und verhindert werden – von den potenziellen Opfern selbst. Gleichzeitig sind diese Möglichkeiten immer präsent. Und diese Präsenz wird als normal akzeptiert.

Wie verrückt ist das denn, dass Frauen Verbrechen – wie sie sexuelle Belästigung, Missbrauch, Vergewaltigung eindeutig sind – in allem, was sie tun, mitdenken müssen? Wie verrückt ist das denn, dass Mädchen beigebracht bekommen, wie sie sich schützen, wie sie mit der immer präsenten Bedrohung umgehen, dass sie nachts lieber daheim bleiben und nur in Gruppen unterwegs sind und jedem misstrauen?

Das angeblich Normale muss infrage gestellt werden. Es kann nicht normal sein, dass uns beigebracht wird, mit der Präsenz von Verbrechen zu leben. Dass es in unserer Verantwortung liegt, dass sie uns nicht passieren. Dass wir nicht zu Opfern werden. Vielmehr müsste diese Gesellschaft dafür sorgen, dass diese Verbrechen nicht als normal, nicht als alltäglich, nicht als „eben da“ akzeptiert werden.

Wir sollten ernst genommen werden. Unsere Sicherheit sollte ernst genommen werden. Unser Lebensgefühl und Wohlergehen sollte ernst genommen werden. Ohne Macht zu sein, das tut weh. Sich nicht selbst schützen und verteidigen zu können. Und nicht für andere vorsorgen zu können. Ihnen die Gefahren nehmen zu können, mit denen frau selbst konfrontiert war. Es braucht einen neuen Diskurs, ein neues Narrativ in dieser Gesellschaft. Denn du bist nicht selbst schuld an dem, was du zu erleiden hast.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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