Die Menschen ernstnehmen

Corona und Wir Die Pandemie hat uns in unterschiedlichen Lebenslagen getroffen. Wir stecken alle gemeinsam drin, aber unsere Herausforderungen sind verschiedene

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Wir müssen uns gegenseitig respektieren – und das fängt beim Verstehen (wollen) an. Also redet mit den Betroffenen, bevor ihr Aufrufe an sie startet und Maßnahmen ergreift, die an ihrer Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Sogar Emmanuel Macron hat das geschafft
Wir müssen uns gegenseitig respektieren – und das fängt beim Verstehen (wollen) an. Also redet mit den Betroffenen, bevor ihr Aufrufe an sie startet und Maßnahmen ergreift, die an ihrer Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Sogar Emmanuel Macron hat das geschafft

Foto: Pascal Pochard-Casabianca/AFP/Getty Images

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch darauf, möglichst objektiv, verallgemeinerbar, analytisch, meinungsstark oder gar emotionsfrei zu sein. Es ist ein emotionaler Text, so wie das eine emotionale Krise ist, diese weltweite Pandemie, in der wir alle stecken. Es ist ein emotionaler Text, und das nicht, weil Frauen das besonders gut können – sondern weil ich es jetzt brauche. Und vielleicht hilft es ja Menschen in ihren eigenen Gedanken.

Die Coronapandemie ist eine Krise auf sehr viele Arten. Es ist eine Krise, die die physische Gesundheit betrifft. So weit, so offensichtlich. Es ist eine Krise, die die Wirtschaft betrifft, das lassen uns Medien und Politiker*innen auch nicht vergessen. Es ist eine gesellschaftliche Krise, denn sie stellt die Prinzipien einer Gesellschaft und die Zusammenarbeit auf die Probe. Eine Probe, die die Gesellschaft langsam zu verlieren scheint – jedenfalls bekam man vor dem Bundestag in den vergangenen Tagen diesen Eindruck. Es ist eine Wissenschaftskrise, weil die Wissenschaft plötzlich politisch wurde, und das zu ihrem Guten wie zu ihrem Schlechten, zu ihrem Ruhm wie zu ihrer Herausforderung. Es ist eine Krise, die unser Weltbild in Frage stellt, unsere politischen Praktiken, unsere ethischen Prinzipien fordert – und uns selbst. Denn nicht zuletzt ist das hier auch eine emotionale, eine psychische Krise – und die trifft jede*n auf seine*ihre Weise.

Es gibt bestimmt objektiv gesehen sehr unterschiedliche Ausgangslagen, von denen aus man in diese Pandemie schlittern kann. Niemand würde leugnen, dass im Krankenhaus oder in Pflegeheimen zu arbeiten im Moment wohl einer der anstrengendsten – auf jegliche Art – Jobs ist, den es gibt. Niemand würde leugnen, dass arbeitende und gleichzeitig Kinder betreuende Eltern zu sein im Moment furchtbar anstrengend sein muss. Niemand würde leugnen, dass Risikopatient*innen gerade besondere Angst durchleben müssen. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, Leid und Anstrengung zu vergleichen, denn es ist nicht vergleichbar. Es ist im Moment für niemanden, auch nicht in einer objektiv „besseren“ Situation, gerade unbedingt einfacher. Wenn wir das allen Menschen erst einmal per se zugestehen, dass, in welcher Situation auch immer sie gerade sind, es ihnen nicht „besser“ gehen muss, sie sich schwach und ausgelaugt und erschöpft fühlen können, und wenn sie noch so „privilegiert“ sind – dann sind wir menschlich schon mal sehr viel weiter.

Sehr eigene Situationen

Ich habe mich über das Video der Bundesregierung zu den „Besonderen Helden“ sehr aufgeregt. Dann ist mir klar geworden, dass Situationen einfach sehr unterschiedlich sind. Ich fand es sehr verachtend, so zu tun, als ob es ein „einfaches Zuhausenleiben und Rumliegen“ wäre, das alle jungen Erwachsenen im Moment tun. Und sie dann auch noch als Helden zu bezeichnen, das kam mir fast verhöhnend vor. Erstens sind wir weit davon entfernt, alle einfach daheim rumzuliegen und nichts zu tun. Mein Unistress jedenfalls hat sich eher erhöht, und da bin ich lange nicht die Einzige (mal ganz abgesehen von arbeitenden jungen Menschen). Zweitens ist es nicht einfach, alleine daheim zu bleiben und nichts zu tun – schon gar nicht für junge Menschen, denn man ist nur einmal im Abiturjahr, nur einmal in seinem ersten Studienjahr und nur einmal in seinem letzten, und das sind Erfahrungen, die nicht zurückkommen. Drittens zeichnet das schon wieder ein Bild der Jugendlichen, die an der zweiten Welle schuld sind, „weil sie einfach nicht zuhause bleiben, obwohl sie es doch sowieso schon so einfach haben, hmpf“ – und auch da sind wir mittlerweile weiter. Und viertens hat niemand verlangt, als Held (sic!) bezeichnet zu werden. Wenn ihr einfach nur mal ernst nehmen würdet, dass auch wir es nicht einfach haben, damit wäre uns schon viel mehr geholfen. Den Heldentitel geben wir gerne ab.

Aber ja, es mag ja sein, dass das Video etwas Gutes bringt, es scheint jedenfalls viel Euphorie im Netz ausgelöst zu haben. Ich kann es nur selbst nicht mehr hören, nachdem ich nun schon Wochen brav daheim sitze, dieses belehrende „einfach zuhause zu bleiben“. Und es ist bei weitem nicht für alle „einfach“. Die erste Frage, die sich dabei nämlich stellt, ist die, wo das eigentlich sein soll. Und auch damit bin ich sicher nicht alleine, gerade was junge Erwachsene angeht. Wir sind eine Generation, für die das Studieren, Leben und Reisen im Ausland etwas Selbstverständliches geworden ist – eine Selbstverständlichkeit, die durch die Corona-Krise genauso auf die Probe gestellt wird, wie viele andere Selbstverständlichkeiten, nach denen wir unser Leben geplant und ausgerichtet haben und unhinterfragt davon ausgegangen sind, dass das alles so bleiben wird.

Wer, wie ich in diesem Sommer, in ein anderes Land gezogen ist, vorzugsweise zum Studieren, steht wie ich jetzt vielleicht noch einmal vor ganz eigenen Herausforderungen. Jetzt bist du also im Ausland, und hast da vielleicht sogar eine sehr gute WG gefunden, einen Ort, an dem du gut leben kannst – nur das mit dem neuen sozialen Netz, das hat wegen Corona nicht so richtig gut geklappt. Also hätte das vielleicht ein neues Zuhause, ein neuer Ort, an den man dann irgendwie gehört, werden können und kann es noch werden – aber er ist es gerade nicht. Im französischen Lockdown darfst du nur nach draußen, wenn du dir ein Attest ausstellen lässt, mit einem triftigen Grund – so viel zu den Chancen, Menschen kennenzulernen. Und alleine in der Fremde, das geht einfach auch nicht lange gut. Bleibt Option B, die Eltern: Ja, das geht immer, und das ist auch gut so, und das ist also auch irgendwie ein Ort, an dem man sein kann. Aber mal ehrlich: Wer will mit Anfang Zwanzig wieder bei den Eltern einziehen, egal wie toll sie vielleicht sind? Und dann bleibt Option C, und das ist dieser schwammige Ort, an dem die Menschen sind, die einem gerade die wichtigen sind, die sozialen Beziehungen, mit denen man vorher sein Studium oder was auch immer verbracht hat. Und das ist gut, denn da gibt es ein Netz und ein Wohlfühl- und Sicherheitsgefühl – aber keinen Ort mehr, an den man gehört.

Und dann hängt man in der Luft, und Corona hat einen zur Nomadin gemacht, weil man an dem neuen Ort, an dem man seine Zelte aufschlagen wollte, nur von Ferne ein neues Leben erahnen konnte, ehe man in seine eigenen vier Wände eingesperrt wurde.

Menschen ernstnehmen

Dies ist eine sehr eigene Situation und eine sehr ungewöhnliche Konstellation, und sie ist natürlich nicht unbedingt auf andere übertragbar. Aber das ist der Punkt. Menschen, und vor allem junge Menschen, sie haben alle sehr eigene Situationen und sehr viele sind nicht einfach. Sehr viele sitzen zwischen den Stühlen und stehen zwischen zwei Schritten in eine nun ungewiss gewordene Zukunft. Für uns ist es wichtig, was nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr passiert, wir sind nicht gefestigt, wir sind auf der Suche und es kommt auf Tage, Wochen, Monate an. Ich sage nicht, dass das anderen nicht auch so geht. Aber die Rastlosigkeit, die Suche, die Konfrontation mit Neuem, sie ist – war – unser Leben.

Ich sage nicht, dass es nicht auch unsere Verantwortung ist, diese Krise zu stoppen. Aber es sind auch nicht wir, die dagegen arbeiten, die nicht „einfach zuhause“ bleiben. Ich kenne niemanden in meinem Umfeld, die*der sich keine Gedanken macht. Im Gegenteil, denn die meisten versuchen, sehr komplex abzuwägen. Ja, junge Menschen entscheiden sicher oft anders, wenn es um die Abwägung zwischen absoluter Sicherheit und Sozialität geht. Aber Sozialität, soziale Kontakte, soziale Interaktion, das macht einfach einen sehr großen Teil unseres Lebens aus, das Bedürfnis ist stärker – und das darf es auch sein. Ich sage nicht, dass man Partys und Menschenaufläufe tolerieren muss – aber ich fordere ein bisschen Verständnis ein. Alles was geht, das verlegen wir online. Aber wer nicht seit 20 Jahren mit seiner Kernfamilie in einem Haus wohnt, sondern dessen Leben noch voller Bewegung ist, der lebt einfach noch viel mehr von Kontakten, die nicht „der eigene Hausstand“ sind als andere Festeingesessene.

Wir werden mit krassen emotionalen und sozialen Schäden aus dieser Krise gehen – und trotzdem tun wir alles, was geht, um sie aufzuhalten. Manche tun sich dabei mehr oder weniger leicht, keine Frage. Aber wir müssen uns gegenseitig respektieren – und das fängt beim Verstehen (wollen) an. Also redet mal mit den Betroffenen (und das gilt übrigens nicht nur für junge Menschen, viel mehr noch für Ärzt*innen, Künstler*innen, Lehrer*innen etc.!), bevor ihr Aufrufe an sie startet und Maßnahmen ergreift, die an ihrer Lebenswirklichkeit (und der Wirklichkeit im Generellen, aber das ist ein anderes Thema) vorbeigehen. Sogar Emmanuel Macron hat das geschafft (wenn der auch ganz andere Fehler hat).

Und wer jetzt kritisiert, dass das Jammern auf hohem Niveau ist, der hat den Punkt nicht verstanden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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