Wie das Patriarchat Frauen Hirnkapazität stielt

Körper „Ich habe nichts anzuziehen“: In einem kleinen Satz offenbart sich, welche komplexen Ansprüche die Gesellschaft heute an Frauen stellt - und warum diese bei dem Versuch, sie zu erfüllen, nur verlieren können.

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Ich stehe vor meinem Kleiderschrank, es ist Hochsommer, heute sollen es über 30 Grad werden, und ich verzweifle innerlich. Und äußerlich, denn mein Freund ist da und den kann man mit sowas schon mal belasten. „Ich weiß nicht, was ich anziehen soll“, sieben Worte, eigentlich sehr klar, doch sie treffen auf Unverständnis, ich sehe es in seinem Gesicht. Oberflächlich betrachtet ist das auch nicht unbedingt verständlich, warum in diesen sieben Worten bei mir so viel unterschwellige Verzweiflung und ein leichtes, aber sehr tiefes kaum hörbares Seufzen liegt. Aber unter diesen Worten liegt eine Geschichte und ein so allumfassendes Lebensgefühl, das ich, glaube ich wenigstens, mit sehr vielen Menschen vor allem meines Geschlechts teile – und das offensichtlich auch gesellschaftlich bedingt ist.

Ich habe nichts anzuziehen, ich weiß nicht, was ich anziehen soll, ich besitze keine guten Klamotten, nichts Angemessenes, nichts Passendes, nichts in dem ich mich wohlfühle. Worte, geäußert zumeist vor einem mindestens angemessen vollen Kleiderschrank (wenn nicht, dann haben wir ein ganz anderes Problem, das ich gar nicht kleinreden will – um das geht es hier aber nicht), und in der Popkultur immer wieder als Klischee gegen Frauen (ohne Sternchen, denn es geht ja gerade um das Klischee) verwendet. Und immer wieder auch als Waffe, um unser angebliches Unvermögen zu Entscheidungen und damit zu eigentlich allem Wichtigen dieser Welt zu demonstrieren. Das liegt eh besser in Männerhand.

Doch es ist nicht lächerlich. In diesem kleinen Satz, auf die ein oder andere Art geäußert, liegt ein tiefes soziales Problem, das wir Frauen (zumeist) tief in unserer gesellschaftlichen DNA verankert haben, das eins mit uns geworden ist. Es ist gesellschaftlich gemacht, um uns klein zu halten. Es befeuert das Patriarchat und damit ein Herrschaftssystem, das sich auch genau auf diese vermeintlich kleinen Probleme stützt, die wir inkorporiert haben: Der Schönheitswahn, der Frauen von Kindheit an begleitet, und der sich in sehr weit verbreiteter Verunsicherung von Frauen in ihrem eigenen Körper niederschlägt (von Frauen* natürlich im Allgemeinen und sicher noch in an derer Art, aber noch einmal: es geht mir um die Klischees).

Gesellschaftlich geschickt gemachter Druck, als Frau schon von frühster Kindheit an „schön“ sein zu müssen, den Körper zu trimmen, die Kleidung „richtig“ zu wählen, und damit das ein oder andere auszugleichen, gleichzeitig „passend“ angezogen zu sein. Ein Druck, der viel Hirnkapazität braucht, der regelmäßig zur Verzweiflung mit dem eigenen Körper bringt, und der sich in Kleidungswahlproblemen und anderen vermeintlichen Kleinigkeiten niederschlägt. Doch wenn du gewohnt bist, dass du nur „makellos“ durchs Leben kommst, oder wenigstens „makellos unauffällig“ – und da gehört die mindestens „angemessene“ Kleiderwahl dazu –, dann zeigt das Patriarchat und sein in dieser Gesellschaft propagiertes Idealbild einer Frau mal wieder, wie perfide es unterdrückt – und uns beschäftigt hält. Denn Gott bewahre, hätten wir Frauen mal mehr Hirnkapazität übrig, um uns mal mit all den zugrundeliegenden Sexismen und Ungerechtigkeiten zu beschäftigen – und nicht mit unserem Äußeren.

Doch damit nicht genug, denn einzelne von uns hat dieser Druck, schön, passend, makellos zu sein (beinahe) kaputtgekriegt, sodass sie mit noch tiefergehenden Problemen kämpfen. Da ist die (ehemalige) Essgestörte, die heute immer noch mit einer Körperschema-Störung kämpft und ihren Körper nicht in seiner „wahren“ Form sehen kann – und damit auch nicht wirklich damit zufrieden sein. Da ist der kommende Sommer, der doch immer schneller da ist, als erwartet, und während dem Hosen eigentlich wieder kürzer, Ärmel überflüssig und überhaupt Kleider insgesamt wieder enger werden. Dazu die Hitze. Herausforderungen.

Neben der rein praktischen hat Kleidung eben noch einen weiteren, und für viele vielleicht sogar wichtigeren, Aspekt: Kleidung soll Selbstbewusstsein stärken (oder wenigstens nicht schwächen). Und wenn man wenig von letzterem hat, ist die Kleiderwahl eben nicht egal, sondern im Gegenteil sehr essenziell. Und diesen Anspruch mit allen sowieso schon gesellschaftlich gemachten Ansprüchen an die passende Kleidung in Einklang zu bringen, ist gar nicht mal das einfachste – und deswegen sind die Zweifel vor dem Kleiderschrank vorprogrammiert. Und sie sind nicht banal – sie stellen die fundamentale Verzweiflung durch die vielen komplexen und manchmal sogar konträren, also schlicht nicht erfüllbaren, Ansprüche dieser Gesellschaft an eine Frau dar – die sie dann auch noch irgendwie mit den eigenen in Einklang bekommen soll. Und dann heißt es immer, wir würde zu komplex denken – aber eigentlich haben wir auch keine andere Wahl.

Um nur mal mein Beispiel zu nehmen: Es ist Sommer, es ist heiß, sogar ungewöhnlich heiß, meine Kleidung sollte also luftig sein, damit ich mir bei der Hitze keinen Kreislaufkollaps hole, oder – noch viel schlimmer, denn es macht mein Körpergefühl irreparabel schlecht für den ganzen weiteren Tag – zu viel schwitze. Gleichzeitig fühle ich mich in meinem Körper – danke an dieser Stelle an die verkorksten „Schönheitsideale“ meinerseits als Teenagerin – aber gerade wieder ungewöhnlich unwohl, meine Kleidung sollte also auch nicht zu kurz sein oder zu viel Körper zeigen. Eigentlich würde ich zurzeit gerne manchmal im Crop Top herumlaufen, denn ich finde es schön, und das würde ich für mein Selbstbewusstsein gerade gut gebrauchen. Aber das könnte mir nachher zum Verhängnis werden, denn ich könnte mich nackt und damit sehr unwohl fühlen. Und dann muss ich dazu auch noch mit der Klimaanlage im Büro rechnen, die auf Herbsttemperaturen kühlt, während es draußen Ofenhitze hat. Und bei all dem soll ich auch noch der Arbeit gerecht werden, und meinen eigenen Ansprüchen an meinen Stil, in dem ich mich am besten auch noch wohl genug fühle, um heute richtig „performen“ zu können.

Und da soll mir nochmal einer sagen, ich solle „einfach etwas anziehen“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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