Krisenzeit

Krise Wir erleben eine Zeit der multiplen Krisen. Welche schlimmer und welche es weniger sind, ist keine konstruktive Debatte

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Corona mag die sichtbarste Krise sein. Dabei ist so vieles gleichzeitig krisenhaft. Eines steht dabei fest: Augen verschließen ist keine Option
Corona mag die sichtbarste Krise sein. Dabei ist so vieles gleichzeitig krisenhaft. Eines steht dabei fest: Augen verschließen ist keine Option

Foto: John Macdougall/AFP via Getty Image

Es ist Krisenzeit, hören wir oft. Wir leben in einer Zeit der Krisen. In instabilen Zeiten. In dunklen Zeiten. In Zeiten, in denen unsere Werte auf der Kippe stehen, unsere Systeme instabil werden, unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft. In den neuen Zwanzigerjahren. In Zeiten von Umbrüchen und Gefahren, größer als alle, die die Menschheit bisher lösen musste – und von denen wir nicht wissen, ob wir es können.

Da gefühlt alle um mich herum das gerade sagen und schreiben, glaube ich mal, dass das wirklich so ist. Denn meiner eigenen Einschätzung traue ich gerade nicht so sehr. Ich habe schlechte Laune, ich bin genervt, ich sehe die Welt sowieso grau, egal was gerade wirklich passiert. Ich habe PMS und das schlägt voll ein. Und wenn mir jemals jemand darauf sagt, ja, ich bin auch manchmal ein bisschen genervt, dann hau ich ihm eine rein.

Ja, es ist nur meine Krise, aber es ist auch eine Krise. Es ist eine Krise, die mir so viel Kraft raubt, wie nichts anderes gerade, und das will etwas heißen. Über der Welt liegt ein grauer Schleier, der alles überlagert. Es macht keinen Spaß, glaub mir. PMS, die Woche bevor ich endlich meine Tage bekomme und „nur noch“ körperliche Schmerzen habe, es ist eine Woche, in der meine Nerven 24/7 blank liegen und meine Tränenkanäle auch. Vor allem aber ist es eine Zeit der absoluten Unsicherheit, der unkontrollierbaren Emotionen – und das ist einfach anstrengend. In diesen wenigen Tagen – aber auch nur da –, da fluche ich manchmal über das Frausein.

Es ist nur meine Krise, aber auch sie ist wichtig. Ich denke mir oft – und das macht es nicht besser –, ich sollte mich mal zusammenreißen, andere sterben. Und ja, andere sterben, und trotzdem ist meine persönliche Krise eine Krise, die echt ist und die wichtig ist. Und ich darf sie ernst nehmen. Du darfst deine Krisen immer ernst nehmen. Die Sterbenden haben nichts davon, dass sie dir mehr wehtun und du dabei kaputtgehst.

Wie viel zählt der*die Einzelne?

Körperliche Krisen, die auf die Psyche schlagen, davon kann auch mein Mitbewohner ein Lied singen. Er hat eine Autoimmunkrankheit, die ihn quasi von Innen auffrisst (vielleicht überspitze ich in meiner Stimmung, aber so hören sich die Erzählungen gerade an). Er versucht sich, um mich zu kümmern und kann selbst eigentlich nicht wirklich, und ich versuche mich, um ihn zu kümmern, aber ich kann auch nicht so richtig.

Wenn sich zwei Krisen treffen gibt das eine doppelte Krise. Nichts mit geteiltem Leid und so einem Quatsch: Es tut weh, es ist anstrengend, und wenn man dann dazu auch noch nicht für einen guten Freund da sein kann, dann macht es das emotional noch schlimmer. Hilflosigkeit, das ist vielleicht eines der hässlichsten Gefühle – wenigstens in unserer heilen Welt; ja ich merke selber, dass ich relativiere, obwohl ich das nicht wollte, ich kriege es einfach nicht los. Und alle diese Krisen, auch und v.a. die sich treffenden, sind wichtig.

Ungerechtigkeit und die eigene Hilflosigkeit dieser gegenüber, auch das ist verdammt schwierig. Eine Freundin von mir gibt ehrenamtlich Beratungen in der Abschiebehaft unserer Kleinstadt und das sind jeden Tag dutzende Krisen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen, die man laut herausschreien und der Welt ins Gesicht schleudern will. Menschen ohne rechtliche Hilfe in einer Haft, die nicht für Verbrecher*innen gedacht ist. Menschen, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, als vor Vertreibung und Folter, Krieg und Unrecht zu fliehen.

Obwohl wegen Corona quasi kein Flugverkehr stattfindet, sollte eine der Geflüchteten abgeschoben werden, in eigens gechartertem Flugzeug. Krasser finde ich aber noch, dass sie wegen des Flughafenverfahrens quasi keine anwaltliche Hilfe beim Stellen ihres Asylantrages hatte. Ein System, das sich „Rechtssystem“ schimpft. Ich kenne sie vom Übersetzen und es nimmt mich mit.

Ein anderer der Geflüchteten wurde gerade einfach von der Bundespolizei abgeschoben – obwohl er wohl minderjährig ist und obwohl sein Verfahren gerade noch am Laufen war. Wenn man das eigene Rechtssystem nicht ernst nimmt. Und jetzt hat meine Freundin es in die Welt hinausgeschrien, es der Gesellschaft vor den Latz geknallt – und es in die Tagesschau geschafft. Vor, zwischen und nach all ihren Telefonaten mit der Presse reden wir, beruhigen uns – und atmen durch. Unrecht, das raus muss; Krisen, die systemisch sind. Krisen, die uns alle betreffen, die aber nur von wenigen ausgetragen werden. Wie viel zählen Einzelne?

Die Krisen der anderen

Währenddessen treiben auf dem Meer Geflüchtete in kaputten Booten und verzweifeln an der Friedensnobelpreisträgerin Europa. Am Wochenende konnten wir sie um Hilfe rufen hören, „Alarm Phone“ machte es möglich. Ich finde es unerträglich, diese Krise der Seenotrettung, die v.a. eine Krise unserer Menschlichkeit ist. Eine Menschlichkeit, die wir predigen, Menschenrechte, die wir in anderen Ländern und Teilen der Welt durchzusetzen vorgeben und die wir längt über Bord geworfen haben, wie auch abertausende Geflüchtete ins Mittelmeer. Auch eine Krise, unsere Krise, die wir lieber als die Krise der anderen sehen – vorzugweise Italiens oder Maltas.

Oder Griechenland; dort leben Menschen zu zehntausenden in Lagern und auf der Straße, haben im reichen Europa nicht genug zu essen und zu trinken, werden ihrem Elend weiter ausgeliefert, sodass Kinder ernsthaft probieren, Suizid zu begehen. In unserer Kleinstadt haben wir gerade eine Seebrückengruppe gegründet und den ersten Aktionstag gestartet. Die Resonanz überwältigt uns – und zeigt uns gleichzeitig die Drastik dieser Krise. Sie geht so weit in die „bürgerliche Gesellschaft“ hinein, sie wird von so vielen mittlerweile auch als unsere Krise gesehen – und trotzdem politisch immer noch als die Krise der anderen, Europas, Geflüchteter geframet.

Und gerne einer anderen Krise nachgeordnet, der mittlerweile weltweit präsenten Corona-Krise. Sie trifft uns nicht unerwartet, eigentlich, aber sie bringt ein Ausmaß mit sich, das die meisten von uns überfordert. Das uns überfordert, diese Krise und ihre Auswirkungen überhaupt ansatzweise zu überblicken, das uns überfordert in seiner Komplexität, in seiner Unsicherheit und seiner Unsichtbarkeit. In seiner Drastik.

Covid-19 bringt Herausforderungen mit sich, groß, wie weniges in der Lebzeit der heutigen Gesellschaft. Sie ist gesellschaftliches und politisches Hauptthema, die Tagesschau bringt Sondersendung um Sondersendung dazu – und das ist richtig. Es ist eine Krise, die uns alle packt und festhält, die die Welt insgesamt im Griff hat, die uns schüttelt und fallen lässt und mit Todesangst belegt. Sie ist im Moment die einzige als Krise behandelte und angegangene Krise. Und es ist gut, dass das so ist, dass sie als Krise bekämpft wird – auch wenn man sich mit den aktuellen Lockerungen auch dabei nicht mehr so ganz einig zu sein scheint.

Die Menschheit will nicht überleben

Aber es ist nicht die einzige Krise. Denn während die Nachrichten voll sind von Corona-Zahlen und Prognosen, von Wahlkampfinszenierungen und Gegenstimmen, da gehen die Meldungen zur einer – ja, es gibt noch tausende mehr, die Liste ist nicht erschöpflich – anderen weltweiten Krise beinahe unter. Der März ist der sonnenreichste seit 1951 und richtig geregnet hat es schon Wochen nicht mehr.

Ich will nichts mehr hören von „Trockenjahren“ oder „überraschend heißen Monaten“. Es ist der Klimawandel, er ist da, er wirkt und er macht Probleme. Die Klimakrise, sie ist kaum noch Thema in diesen Wochen. Dabei ist das Jahr 2020 entscheidend, wenn sich dieses Jahr nichts tut, dann können wir das 1,5-Grad-Ziel endgültig beerdigen gehen. Und damit die Aussicht auf eine irgendwie geartete Grundlage für das Überleben der Menschen. Stattdessen können wir reichen Europäer*innen uns dann damit herumschlagen, wie wir die Verantwortung für abertausende Klimatote auf uns nehmen wollen, wie wir das Ziel der Klimagerechtigkeit einfach stillschweigend verschwinden haben lassen. Es ist eine Krise, behandelt sie so. Dass es geht, habt ihr ja gezeigt.

Krisen nach Wichtigkeit, nach Drastik ordnen, die einen aufschieben, obwohl daran Menschen sterben, weil bei einer anderen eben auch Menschen sterben (niemand sagt, dass das weniger drastisch wäre) – es macht Verzweiflung offensichtlich, aber auch Feigheit. Und es bringt immer tiefere, immer einschneidendere, immer weiter wachsende Probleme mit sich. Krisen warten nicht, während wir mit anderen beschäftigt sind.

Alle Krisen sind wichtig. Sie alle sind Krisen und sie müssen als solche behandelt werden. Und es gibt keine Hierarchie, die sich rechtfertigen ließe; deine, meine, unsere, ihre Krisen, sie sind alle wichtig. Aber wie will man sie alle ertragen? Wie sie alle sehen und behandeln, sie alle ernstnehmen und bekämpfen, ohne daran kaputtzugehen? Augen zu machen ist keine Option.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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