Jetzt also drei Kanzlerkandidat*innen statt zwei, jetzt also politischer Wahlkampf im Privatfernsehen, jetzt also Instagram und Twitter als Wahlkampfmedien. Alles scheint komplizierter geworden zu sein in diesem Wahlkampfjahr 2021, alles ein bisschen mehr, ein bisschen schneller, ein bisschen polarisierter, ein bisschen mehr unter der Gürtellinie und in das Privatleben der Kandidat*innen (wobei, vor allem der Kandidatin ohne *) hinein.
Andere Länder in Europa haben es vorgemacht. In Frankreich standen vor ein paar Jahren plötzlich nicht mehr die Sozialisten den Konservativen gegenüber, sondern ein Liberaler einer Rechtsextremen. Das alte Parteiensystem hat sich zerlegt, es war nicht mehr berechenbar, worauf das wohl hinausläuft. So weit ist es in Deutschland zwar nicht, doch drei Kanzlerkandidat*innen, die sich ernsthafte Chancen ausrechnen können, das gab es bislang noch nicht. Nach dem vor einiger Zeit noch relativ sicher prognostizierten Untergang der SPD sieht es jetzt zwar nicht mehr aus, Volksparteien scheint es aber nun drei zu geben.
Herausbildung einer neuen Volkspartei und Chaos im Wahlkampf scheint auch zu heißen, sich von Inhalten zu verabschieden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat gerade festgestellt, dass keine Partei ein Programm vorgelegt hat, mit dem Deutschland seine im Klimaschutzgesetz festgelegten Klimaziele für 2030 erreichen kann. Wen also wählen? Als linker Mensch, der hinter der Klimagerechtigkeit in all ihren Facetten steht, wird es dieses Jahr vielleicht noch unmöglicher, eine passende Stimme abzugeben, als es das sowieso schon immer war. Taktisch zu wählen könnte ebenfalls schwierig werden – denn wer weiß schon, wer mit wem was wann und wie zusammenarbeiten wollen wird. Keine Strategie ist auch eine.
Neben der Komplexität des sich neu herausbildenden Parteiensystems und der Verabschiedung von Inhalten macht der Fokus auf einzelne Menschen das Ganze nicht einfacher. Personifizierung von Wahlkämpfen ist zwar nichts Neues, dass es aber gar so wenig um Sachfragen geht, das nervt dann doch. Da wird dann lieber die einzige antretende Frau nach ihrem Privatleben gefragt und von rechten Blogs zerlegt. Wie viel Angst rechte Blogger vor linken (links-liberalen) Frauen haben, zeigt die Vehemenz und die Skrupellosigkeit mit der halbwahre Vorwürfe aufgebauscht werden – von unserem Lieblingsklatschblatt, von Twitter-Trollen, von selbsternannten Konservativen.
Nicht nur Trolle, sondern auch etablierte Medien
Das ist in seiner Brutalität vielleicht neu, im Grundgedanken aber nicht. Umso mehr schmerzt es medienaffine Wahlkampfbeobachtende in diesem Jahr, politischen Journalismus zu verfolgen. Denn wenn man von der Bild oder ähnlichen Verrissblättern nichts anderes gewohnt ist, so hofft man doch umso mehr auf eine einordnende, kritische, hinterfragende Rolle der anderen Medien. Umso mehr überrascht es immer wieder, wie wenig Lehren aus den letzten jahren gezogen wurden. Dabei haben sich hier die Gefahren von Social Media-Bubbles und Algorithmen-Wahlkampf bereits auf heftige Weise gezeigt.
Da werden Vorwürfe übernommen statt eingeordnet – oder gekonnt ignoriert, obwohl sie offensichtlich keinen Nachrichtenwert haben – und damit weitergetragen, statt sich inhaltlich mit den Parteien und ihren Spitzenkandidat*innen zu beschäftigen. Objektivität und Neutralität im Journalismus heißen nicht, einfach alles zu bringen und nebeneinander zu stellen. Seiner durchaus wahlentscheidenden Rolle muss sich wohl ein guter Teil der großen Medienhäuser noch bewusst werden – auch, um dem Boulevard und der Klatschpresse etwas entgegenzustellen.
Das heißt eben gerade nicht, wie diese Klatschpresse zu werden. Streit statt Diskussion, Action statt Information, vielleicht auch Zuschauerzahlen statt Demokratisierung – so oder so ähnlich scheinen sich die Ziele der Kandidat*innen-Runden vor der Wahl verschoben zu haben. Politische und ehrliche Antworten provozieren und Unterschiede zwischen den Parteiprogrammen herausarbeiten zu wollen, bedeutet nicht, AfD-Fragen zu stellen. Wie viel kostet Klimaschutz, wie viel soziale Gerechtigkeit – das sind weder sinnvolle noch in irgendeiner Art neutrale oder konstruktive Fragen, um in einem Triell Kanzlerkandidat*innen zu klaren Stellungnahmen zu bekommen.
Es war ein Kampf, aber einer, den weder Kandidat*innen noch Moderator*innen gewonnen haben. Das letzte Triell konnte bei politikinteressierten Menschen nur Kopfschütteln und bei allen anderen nur Kopfrauchen verursachen, denn es war weder sehr verständlich noch inhaltlich sonderlich sinnvoll aufgezogen. Und eine Nachbesprechung, in der sich wieder Politiker*innen aus den gleichen Parteien wie die Kandidat*innen gegenseitig die quasi gleichen Argumente an den Kopf werfen, hat kaum Existenzberechtigung. Und das kann man noch nicht einmal diesen Parteipolitiker*innen vorwerfen – was sollen sie denn anderes tun?
Journalismus ist politisch, Medien die vierte Gewalt
Der politische Journalismus hat in diesem Wahlkampf noch wenig Glanz auf sich gezogen. Dabei wäre er in einer von Fake News, Faktenverdrehung, verkomplizierten Diskussionen und durch eigene Bubbles strukturierten Informationswelt umso wichtiger. Wenn ein Jugendmedium wie funk als erstes auf die Idee zu kommen scheint, Faktenchecks anzubieten, während Moderator*innen Behauptung gegen Behauptung einfach stehen lassen oder selbst auch noch eigene Falschbehauptungen in den Raum werfen, dann ist das einfach kontraproduktiv – von der mangelnden Professionalität mal abgesehen.
Nicht umsonst haben wir in Deutschland eine wehrhafte Demokratie. Eine Demokratie, die auch dazu aufgerufen ist, sich zu verteidigen gegen seine Angreifer – ganz gleich welcher Art. Der Journalismus als vierte Gewalt gehört sollte in der Demokratie eine zentrale Rolle spielen. Und dazu gehört es nicht nur, Politiker*innen eine Plattform zu geben. Dazu gehört Einordnung und Faktencheck, Nachfragen und Kritisieren, Sorgfalt und Umsicht im Umgang mit Informationen und deren Nachrichtenwert – und mit dem eigenen Einfluss. Die Wichtigkeit von Umfrageergebnissen – so wenig repräsentativ sie auch sein mögen – ist dabei nur ein Faktor. Denn am Ende gewinnen doch immer mehr Medien die Wahlen mit dem, was, wie und wie viel sie berichten. Dabei muss die Demokratie die Gewinnerin sein.
Darum brauchen wir einen politischen Journalismus, der seine Rolle als Verteidiger der Demokratie wieder ernst nimmt. Denn Wahlkämpfe sind heute schon anstrengend genug.
Kommentare 8
Wählt die Kandidaten der marktkonformen Coronaeinheitsfront!
Im Gegensatz zu früher gibt es sie in vielen verschiedenen Farben. Der bessere Marktschreier wird schon das Rennen machen. - Und danach vier Jahre Ruhe! Immerhin werden die Politiker von mir bezahlt. (Das sagen auch die Milliardäre.) Derweil wähle ich in deren Konsumangeboten herum.
Vielen Dank für den Beitrag !!!
Schade dass kein Mensch bemerkt, was gerade wirklich auf der Straße los ist und worüber die Leute sich so unterhalten.
Da kann es sein, dass sogar die AfD 20% bekommt und wer geht dann leer aus, dass ist die große Frage. Das gefällt mir gar nicht was da gerade in den Köpfen wegen G 1-2-3 abläuft und diese Medienarbeit hilft auch nicht, zu einer Besinnung.
... gerne gelesen - merci für den Link ...
Als hochpolitischer Mensch habe ich um jedes Triell einen Bogen gemacht.
Es ist vollkommen unklar, weshalb die Spitzenfrau der sechststärksten Partei der letzten Wahl da mitlabern kann. Nicht ausgeschlossen, dass die Grünen am Ende noch hinter FDP und/oder AfD landen.
Die letzte ähnliche Veranstaltung mit einem gewisse Spaß- und Spannungsfaktor war 2013 - da frägte Stefan Raab mit und brachte den einen oder anderen schrägen, aber treffenden Quervergleich.
September 2021: Deutschland wählt seine Bellizisten neu
Am 26.09.2021 wird Deutschland erneut wählen, den Deutschen Bundestag nämlich, der vor dem Hintergrund der letzten weltpolitischen Katastrophe, die sich im Rahmen der wertewestlichen Flucht aus Afghanistan deutlich bemerkbar machte, eine besondere Bedeutung hat. – Auch Deutschland hat seit 1999 der viel beschworenen Völkergemeinschaft signifikant massivstes Leid und Zerstörung zugefügt, Millionen Menschen dieser Völkergemeinschaft obdachlos gebombt und sie somit zu Flüchtlingen gemacht – hat viele Elendsflüchtlinge im Mittelmeer ersaufen lassen.
Doch das Afghanistan-Desaster des Wertewestens wird vom politisch/medialen Komplex skrupellos dazu genutzt, ein Projekt für noch mehr Militär und inbrünstige Bekenntnisse zur NATO zu propagieren.
Hochamt dieser Agitation war das Triell der drei Kanzler-Kandidaten nebst Maybrit Illner für das ZDF und Oliver Köhr für die ARD am 12.09.2021 (Video verfügbar: bis 12.09.2022 ∙ 20:14 Uhr).Listig provozierend wollte Maybrit Illner von Annalena Baerbock wissen, ob die Partei DIE LINKE eine demokratische Partei sei.
Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu notwendig, dass die Partei DIE LINKE ihrerseits laut und deutlich erklärt, dass sie sich auf keine Regierungsbildung mit den bellizistischen Parteien einlassen wird, wenn die sich zuvor ihrerseits nicht von dieser kriminellen Vereinigung NATO klar und deutlich distanzieren. – Logik und der gesunde Menschenverstand geböten es.
Die aber hat sich weggeduckt. Sie setzte für die Abstimmung am 25. August 2021 zur bewaffneten Evakuierungsmission der Bundeswehr aus Afghanistan den Fraktionszwang aus, wodurch sich ihre Abgeordneten angeblich frei „nach ihrem Gewissen“ entscheiden konnten. Diese stimmten teils für teils gegen das Mandat, enthielten sich aber mehrheitlich.
Jede und Jeder, der am 26. September 2021 wählen geht, muss sich darüber im Klaren sein, dass nur bellizistische und scheinheilige Parteien für eine reale Regierungsbildung zur Verfügung stehen. – Es gibt auch so etwas wie eine kollektive Mitschuld.
Für die Beteiligung bewaffneter deutscher Soldatinnen und Soldaten hat der Deutsche Bundestag seit 1999 sein Placet erteilt – Jahr für Jahr aufs Neue!
Ich kann dieses Wort "Triell" nicht mehr hören und dass obwohl ich den Schmutz wie Twitter nicht nutze und auch diese Sendungen nicht ansehe. Geht doch einfach auf die Seite der Parteien da steht was sie wollen und rechnet damit dass je nach Stimmenanteil 50-80% nicht passieren werden sowie bei allen Parteien außer der LINKEN weiter eine US-Vasallenschaft. Dass es in Zeiten von Social Media aus den USA kaum noch um Inhalte geht ist doch klar dass wollen die Leute nicht hören hier muss empört werden, bestimmte Schlagworte wie "Rote Socken", "Gendern", "alter weißer Mann", "Klimaschutz" fallen dann schalten die meisten Menschen ab und gehen in die bereits vorbereitete Bubble rein, sei sie konservativ-neoliberal, urban linksliberal, rechtsextrem oder altlinks
Auf Telepolis:
Bundestagswahl 2021: Was nicht gewählt werden kann und was jetzt schon feststeht
Was der Realsozialismus konnte, kann auch das aktuelle System: Echte Opposition hat keine Chance