Schöne Neue Welt

Corona und Terror Eine nicht endende Pandemie und ein „Terrornotstand“ – unsere Realität, unsere „Normalität“ wird gerade brutal neugeordnet. Profitieren werden nur Hetze und Hass

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„Es ist eine neue Realität und fast schon eine neue Normalität geworden, aber nicht so normal, dass sie nicht weiter unglaublich müde, erschöpft und emotional ausgezehrt machen würde“
„Es ist eine neue Realität und fast schon eine neue Normalität geworden, aber nicht so normal, dass sie nicht weiter unglaublich müde, erschöpft und emotional ausgezehrt machen würde“

Foto: Kiran Ridley/Getty Images

Hier in Frankreich leben wir gerade in einem „doppelten Ausnahmezustand“, ausgerufen nur ein paar Tage nacheinander. Zuerst setzte das Parlament auf Wunsch der Regierung den „État d’urgence sanitaire“, den „Gesundheitsnotstand“ wieder ein, dann rief der Premierminister „l‘urgence attentat“, den „Terrornotstand“ aus. Beide haben sehr unterschiedliche Folgen und viel Symbolik – und trotzdem vermittelt es ein krasses Gefühl von Unsicherheit, das schon vorher nicht gefehlt hat.

Es ist eine neue Realität und fast schon eine neue Normalität geworden, aber nicht so normal, dass sie nicht weiter unglaublich müde und erschöpft und emotional ausgezehrt machen würde. In Frankreich haben wir gestern einen neuen „Rekord“ (nie wieder werde ich diesen Begriff mit etwas Positivem assoziieren) an Infektionszahlen erreicht, er liegt über 50.000 an einem Tag. Schlimmer noch aber sind die sich beinahe täglich wiederholenden neuen Höchstzahlen an Toten und Einlieferungen ins Krankenhaus und in „réanimation“, in die Intensivstationen. Experten gehen davon aus, dass wir Mitte November die höchste Bettenbelegung haben – und dann ist es auch quasi voll. Schon jetzt sind mehrere Regionen dabei, Kranke in andere Regionen und sogar ins Ausland zu verlegen.

Deutschland ist Macrons Schätzungen nach ungefähr drei Wochen hinterher und das könnte, wenn man sich die aktuellen Zahlen so ansieht, ganz gut hinkommen. Allerdings ist die Risikotoleranz in Deutschland offenbar geringer, dort wird jetzt schon gehandelt. Trotzdem erwarten Experten auch hier eine krassere „zweite Welle“ als die erste; dass man die Infektionszahlen nicht vergleichen kann, weil mehr getestet wird, das haben wir begriffen, aber das Ausmaß schockt doch. Und jetzt haben wir uns an den Ausnahmezustand gewöhnt, wir haben uns an Masken – naja, jedenfalls in Frankreich – gewöhnt, sie sind Teil des Lebens geworden, und auch die physische Distanz – und das so, dass man in Filmen zuweilen die Panik bekommt, wenn man Menschenansammlungen sieht.

Ein Zurück-in-den-Lockdown

Und jetzt leben wir also wieder im „confinement“, im „Lockdown“ (ich weiß, um den Begriff lässt sich streiten, aber das ist am Ende auch nur Wortklauberei, ihr wisst, was ich meine), hier wie dort. Schon vor Macrons Rede im französischen Fernsehen, abends um 20h, zur besten Sendezeit – auch eine sehr ungewohnte Erfahrung für eine an einigermaßen sachliche und vor allem wenig medial inszenierte Pressekonferenzen gewöhnte Deutsche, diese Rede an das französische Volk, begonnen mit der Marseillaise – war eigentlich klar, was kommen würde. Eine Journalistin sagte, und das prägt seither meine Wahrnehmung sehr, dass es bei diesem zweiten Mal zwangsläufig anders werden würde: Dies sei ein „Re-Confinement“, ein „Zurück-in-den-Lockdown“ (im Französischen funktioniert es besser…), wir hätten jetzt schließlich schon einen hinter uns und nun schon Erfahrungen damit.

Sie hat Recht. Sie hat Recht, aber das beruhigt mich nicht und ich glaube, wahrscheinlich geht es vielen so. Ja, letztes Mal haben Angst und Unsicherheit dominiert, Angst vor der Einsamkeit, aber auch vor dem Virus, Unsicherheit wegen des Eingesperrtseins, aber auch wegen der noch so unbekannten Krankheit. Dieses Mal wissen wir ungefähr, was kommen wird, und wissen auch ungefähr, wie dieses Virus funktioniert. Aber jetzt haben wir auch schon einen „Lockdown“ und einen Sommer voller Unisicherheiten und mit – wenn überhaupt – sehr zerbrechlicher und oberflächlicher „Normalität“ hinter uns. Wir sind gesprintet und dann sind wir Marathon gelaufen und jetzt, wo wir eigentlich nicht mehr – und viele schon lange nicht mehr wirklich – können, da sollen wir schon wieder sprinten. Zugegeben, nicht so schnell wie letztes Mal, aber dafür vielleicht sogar länger (wer kann schon vorhersehen, wie lange das alles dauert, wenn überhaupt Drosten vielleicht, der hatte schließlich schon einmal Recht, und der redet von Sommer 2021, halleluja).

Wir sind müde und einsam und jetzt sollen wir damit einfach weitermachen. Noch nie habe ich so viele Nachrichten bekommen, in denen mir Menschen von ihrer Einsamkeit erzählt haben, und da gehört unter jungen Menschen schon meistens viel dazu, zur wirklichen Einsamkeit. Versteht mich nicht falsch, ich bin absolut für Pandemiebekämpfung. Merkel hat immerhin zugegeben, dass es nur schlechte Lösungen geben kann und dass sie versuchen, die beste-schlechte zu finden, und das ist wenigstens ehrlich, denn es ist (vermutlich) wahr. In Frankreich bessern die wei(s)ßen alten Männer lieber hier und da nach – jedenfalls versuchen sie es –, ohne dabei jemals einen Schritt zurückzutreten. Ja, Macron hat Fehler in der ersten Welle irgendwie eingeräumt – aber jetzt tritt sein Kabinett wieder auf, als hätte es die Weisheit mit Löffeln gefressen. (Frauen an die Macht, hier mal am Rande.)

Und gleichzeitig soll alles eigentlich laufen wie immer, „nur eben online, das geht schon“. Und ich will niemandem unterstellen, es böse zu meinen, nein, darum geht es nicht. Alle kämpfen gerade an ihrer Linie, aber das kann nur ein verlorener Kampf sein. Macht Schule wie immer – das sogar vor Ort, aber das bringt noch einmal ganz andere Schwierigkeiten mit sich, sieht man sich nur einmal die Fallnachverfolgung an –, macht Uni wie immer – Zoom ersetzt keine menschliche Interaktivität, ob ihr es glaubt oder nicht –, arbeitet wie immer, und das mit dem Freund*innen treffen, das klappt bestimmt auch noch digital. Sich anpassen heißt aber eben nicht, alles so zu machen wie immer, als lebten wir nicht gerade in einer weltweiten Pandemie. Es braucht neue Konzepte – an diese neue Realität werden wir uns schließlich auch noch etwas gewöhnen müssen.

Der Terror ist real

Seit ich in Frankreich angekommen bin, gab es drei große islamistische Attentate – in zwei Monaten. Islamistischer Terror ist real in Frankreich, er gehört zur Realität, aber bestimmt nicht zur Normalität. Seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Januar 2015 hat auch der Rest Europas das mitbekommen, seit den Anschlägen in Paris im November 2015 auch dessen Brutalität. Macron sagt, es geht gegen Frankreich, gegen die französische Gesellschaft, und damit hat er wohl Recht, denn die Anschläge zielen auf das Herz dieser Gesellschaft. Getroffen hat es die Meinungs- und Satirefreiheit, eines der wichtigsten Güter der Heimat des politischen Klassenkampfes. Getroffen hat es die Schule, „l’École“, die zentrale Einrichtung der französischen Republik. Und schließlich hat es die Religion getroffen, Privatsache in Frankreich, sehr viel mehr als in Deutschland, und doch eine als sehr wichtig erachtete Freiheit.

Islamistischer Terror in Frankreich ist Realität, aber gerade trifft es das Land ungewöhnlich hart in einer wegen der Pandemie schon lange sehr verletzlichen Situation. Mitten in der Verteidigung der Corona-Maßnahmen im Parlament wurde der Premierminister vom Anschlag in Nizza informiert, von da an musste und muss das Land mit geteilter Kraft gegen beides kämpfen, beides verkraften – und dabei ist eine Art des Terrors schon zu viel, schon in einer unvorbelasteten Situation. Die Zeitungen sind voll von Karikaturen der weinenden Marianne und ich finde es sonst sinnlos, Gesellschaften zu vermenschlichen, aber dass Frankreich gerade weint, das wird wohl keiner in Frage stellen.

Dass das Ziel nicht nur Frankreich – wenn auch besonders, man sehe sich Einwanderungs- und Militäreinsatzgeschichte an, um es zu erklären, aber nicht zu entschuldigen –, sondern auch Europa ist, das haben die Anschläge in Wien gezeigt. Eine Lebensrealität in Europa, die Extremisten (bisher nur Männer, gendern trifft es also nicht; man könnte mal die Frage nach dem Zusammenhang mit dem Patriarchat stellen, macht das, hier nur am Rande) nicht passt, eine Lebensrealität, die sie auslöschen wollen und ihre Träger*innen gleich dazu. Ihr liegt Fanatismus zu Grunde, Menschenhass, eine Ideologie der Ungleichheit, der Wille, die eigene Ideologie durchzusetzen und das mit so viel Gewalt, wie nötig ist. Man will spalten und Hass schüren und Angst verbreiten.

Es profitiert der Hass

Dass das leider auch erfolgreich ist, das zeigen die Reaktionen der Rechtsextremen, der Rechtspopulisten, der Hassenden und Hetzenden, die das Hassen und Hetzen zu ihrer Berufung und leider auch allzu oft zu ihrem Beruf gemacht haben. Ob sie sich nun „Rassemblement national“ oder AfD nennen, sie profitieren von Frust und Angst, von Müdigkeit darüber, das Komplexe, das Menschliche, das Differenzierte, das Richtige aber so sehr anstrengende zu sehen, sich damit auseinanderzusetzen, zu erklären und nicht zu verurteilen, zu verstehen und nicht zu leugnen. Die (angeblich) Alternativen haben eine so wunderbare (angebliche) Alternative anzubieten, in der die Dinge (vermeintlich) einfach und schwarz-weiß sind, in der Probleme (vermeintlich) simple Lösungen haben, und es egal ist, dass das haltlose Lügen und reine Hetze sind.

Einfache Alternativen haben Potenzial, diejenigen aufzufangen, die ihre Existenz dahinfließen sehen, weil sie schon wieder ihre Geschäfte schließen müssen – worüber es in Frankreich gerade einen einmaligen Machtkampf zwischen „Paris“, der Regierung, und den lokalen Politikern gibt, der mir noch nicht entschieden scheint, und der spannend sein könnte, wäre der Grund nicht so bitter und die Lösungen nicht alle viel zu schlecht. Sie haben Potenzial, der Wut einen Kanal zu geben, wenn sich Gewalt und Terror als unbegreiflich darstellen – weil „die Flüchtlinge“ abschieben sehr einfach klingt, aber weder das Terrorproblem lösen wird, noch mit irgendeiner noch so minimalen Vorstellung von Menschlichkeit vereinbar ist. Wer profitiert, das ist der Hass.

Und so sieht sie dann wohl aus, unsere neue Realität. Weder Pandemie noch Terror werden sich in absehbarer Zeit beenden lassen. Wir brauchen Ruhe, um uns zu ordnen und unsere Politik, unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Trauer und Wut, aber wir kriegen sie nicht. Corona ordnet selbst unsere Welt neu und das nicht zum Guten: Hartmud Rosa sagt, Corona hat unseren Bezug zu Raum und Zeit verändert, denn wir können nicht mehr weit reisen und auch nicht mehr weit planen, und er hat Recht. Wir sind hier und jetzt gefangen und das gefällt mir gar nicht, überhaupt nicht, es macht mich verrückt, aber vor allem macht es gemeinsames und strategisches Handeln unglaublich schwierig. Bruno Latour sagt, Corona gibt uns das Gefühl, eingesperrt zu sein, Grenzen zu entdecken, die wir vorher nicht kannten, und auch er hat Recht. Und der Terror tut sein Übriges, denn er nimmt uns eine andere Gewissheit, nämlich dass wir hier in Europa in Sicherheit sind, dass wir zivilisiert und gewaltarm sind – wenigstens nach innen – und dass wir unangreifbar sind. Das Gefühl bröckelt langsam, aber sicher, und das momentane Grau wird noch dunkler.

Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn jetzt noch die Wirtschaftskrise tiefe Furchen in unsere Gesellschaft zieht, nachhaltige und irreparable Furchen, (weitere) Existenzen zerstört, (noch mehr) Vertrauen in Demokratie und Gesellschaft zerstört – und wir uns nicht organisieren können. Wenn wir nicht auf die Straßen ziehen und Massenproteste und Massensolidarität bekunden können, weil wir die Pandemie ernst nehmen, weil wir Menschenleben schützen und den gleichen Wert aller Menschen anerkennen, weil wir Solidarität für essenziell halten und niemanden opfern, und weil wir der Wissenschaft glauben. Und wenn aber diejenigen, denen Menschenleben, Solidarität und Argumente nichts wert sind, die Intoleranten und Hassenden, die Hetzenden und Skrupellosen, ungehindert über Leichen gehen. Weil Intoleranz über Toleranz siegt, wenn Toleranz ihr nicht genug entgegensetzt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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