Teile und herrsche

Covid und Vereinzelung Der Individualismus hat uns angreifbar gemacht und versetzt den Staat in die Lage, uns mit der Frage nach Risiken und Nebenwirkungen der Lockerungen alleine zu lassen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vereinzelt wie wir sind, können wir uns gegen die Risiken der Lockerungen nur schwer wehren
Vereinzelt wie wir sind, können wir uns gegen die Risiken der Lockerungen nur schwer wehren

Foto: Christof Stache/AFP via Getty Images

Lockerungen, wohin man sieht. Lockerungen in den Geschäften, in den Schulen, in den Baumärkten. Lockerungen auch in den Friseurgeschäften und den Unternehmen. Seit der Diskurs darum, wie man möglichst schnell wieder zu „Normalität“ zurückkehren könnte, begonnen hat, wird er immer wahnwitziger. Wie in einem Wettbewerb, wer sich am meisten und am schnellsten traut, möglichst viele kleine und große Schritte in Richtung einer vermeintlich vor uns liegenden Normalität zu machen, so benehmen sich unsere Staatsmänner gerade. Noch vor wenigen Wochen sprach Merkel von den „Öffnungsdiskussionsorgien“ und es ist ihr anzusehen, wie wenig sie von dem Wettlauf der Männer um sie herum um die weitesten Lockerungen hält.

Das Narrativ der Wirtschaft, dass wir jetzt, und zwar am besten gestern schon, wieder wie immer arbeiten und konsumieren sollten, hat sich durchgesetzt und wird immer stärker. Seit die Aussage, man dürfe dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen, beinahe unwidersprochen im Raum hängen geblieben ist, scheint sie einfach langsam durch die gesamte Wirtschafts- und Politikelite gesickert zu sein.

„Wie in einem Wettbewerb: Wer traut sich am schnellsten, möglichst viele Schritte in Richtung Normalität zu machen“

Lockerungen, das klingt so nett. Etwas lockerer machen, das ist doch normalerweise ganz schön, das hat so einen Beigeschmack von Freiheit. Und bei manchen Dingen, da mag das auch so sein – auch wenn die Unfreiheit, solange sie sich noch an die Erkenntnisse und Einschätzungen der Virolog*innen dieses Landes gehalten hat, wohl auch durchaus ihre Berechtigung hatte, aber das ist ein anderes Thema –, wenn es darum geht, wieder mit einer Person spazieren oder einkaufen gehen zu dürfen. Es ist ein Gewinn an Möglichkeiten, die ich nutzen kann, wenn ich es will – und nicht muss, wenn ich es für mich gerade oder auch generell für nicht sinnvoll halte.

Der Zwang der Öffnung

Aber auf der anderen Seite dieser Lockerungen, die uns neue Möglichkeiten schenken, da stehen die „Lockerungen“, die nicht dürfen, sondern müssen bedeuten. Die nicht „neue Freiheiten genießen“, sondern „in alte Zwänge zurück“ bedeuten, und das in einem völlig neuen Kontext, dem Kontext von Covid-19. Lockerungen also, die nicht bedeuten, überschaubare und selbst entscheidbare Risiken auf sich zu nehmen, sondern die ein Zurück in die Welt sind: Es heißt, sich acht, neun, zehn Stunden am Tag einem Risiko auszusetzen, einem Risiko, zu dem ich gezwungen werde, das ich mir nicht aussuchen kann. Acht, neun, zehn Stunden am Tag, die bedeuten, sich in Lebensgefahr zu bringen und für andere zur Gefahr werden, ohne dass ich einen Einfluss darauf habe – oder eine echte Wahl.

Der Kapitalismus hat das gut vorbereitet. Er hat uns aufgeteilt und individualisiert, er hat uns jede*n für sich selbst zum*r Kämper*in für das eigene Glück gemacht, hat uns Konkurrenz als eigenen Wert verkauft und als notwendig für das Vorankommen der Menschheit, hat uns eingeredet, dass es gut so ist, dass es jede*r schaffen kann, wenn er*sie nur will, dass wir genau so am besten, optimalsten, effektivsten – und glücklichsten wären. Der Kapitalismus hat uns in eine Situation gebracht, in der wir es normal finden, miteinander zu konkurrieren, nur auf uns zu schauen und uns alleine durchzuboxen.

Und er hat uns das auch noch als „Freiheit“ verkauft. Als Freiheit, weil wir ja – angeblich – machen können was wir wollen, wie wir wollen, auf welche Weise wir wollen. Weil wir ja frei sind von (staatlicher) Planung, von (solidarischen) Verpflichtungen anderen gegenüber, von der Aufgabe, in unseren Handlungen andere mitzudenken. Nur wir für uns – ist das nicht wunderbar, ist das nicht toll?

Überleben ist Privatsache

Jetzt „darf“ also jede*r für sich entscheiden, wieder arbeiten zu gehen aufgrund der Lockerungen, mitten in einer Pandemie, die schon tausende Menschenleben gekostet hat und die nach Expert*inneneinschätzungen auch noch lange nicht durchgestanden ist. Also, „entscheiden“ ist ja eigentlich zu viel gesagt. Eigentlich sollst du einfach machen, ohne zu entscheiden, ohne nachzudenken, Staatsvertrauen. Aber ein paar Auswege bleiben ja doch – im Privaten, wie es so schön heißt.

Im Privaten, da kann man zum Beispiel entscheiden, nicht zum Risiko zu werden. Also nicht, indem man sagt, hey, mein*e Mitbewohner*in – in welchem Beziehungsstatus auch immer – ist Risikopatient*in, das ist dann irgendwie schlecht, wenn ich das Virus mitbringe, könnten Sie das bitte ohne mich lösen? Nein, arbeiten zu gehen hast du natürlich, aber schützen solltest du die Personen in deinem Umfeld schon. Wie das gehen soll, dazu wurden sich offensichtlich kaum Gedanken gemacht. Ins Hotel ziehen? Zu Hause Mundschutz tragen? Wem will man das zumuten. Und Staat wie Betriebe stehlen sich aus der Verantwortung.

„Privatsache sind all die Dinge, die den Kapitalismus bei seinem Wachstum stören könnten“

Um weg zu bleiben vom Kassierer*innenjob, von der Arbeit als Lehrer*in, von massenhaft Kontakten mit Menschen an öffentlichen Orten und in geschlossenen Räumen während der Lohnarbeit also, da braucht es schon drastischere Maßnahmen. Krankschreiben zum Beispiel – und als ob das nicht schon verrückt genug ist, sich krankschreiben lassen zu müssen, um in einer Pandemiesituation sich und andere nicht dem Risiko auf Lebensgefahr auszusetzen. Auch kündigen ist so eine Möglichkeit, aber wie vielen Menschen ist das schon möglich. Und natürlich, wie sollte es anders sein, ist auch das deine „Privatsache“.

„Privatsachen“, das sind all die Dinge, die den Kapitalismus bei seinem Wachstum stören könnten. Das sind all die Dinge, auf die keine Antwort gefunden wurde, in dem Eifer der Politik, die Wirtschaft und die Pandemie unter einen Hut zu bekommen. In dem Eifer, den Kapitalismus am Laufen zu halten – was er nicht kann, offensichtlich, wenn man Menschenleben tatsächlich über Profite stellt – und gleichzeitig den Menschen zu suggerieren, man habe sich Gedanken gemacht über ihren Schutz. „Privatsache“ und die „Freiheit“ der individuellen Entscheidung zu Arbeit und Konsum im Kapitalismus, das sind wunderbare Instrumente, Wirtschaft über Gesundheit zu stellen, ohne es auszusprechen. Aber das Private, es ist sowas von politisch.

Organisieren heißt Überleben

Niemand sollte gezwungen werden können, sich in Gefahr zu begeben und eine Gefahr für andere zu werden. Arbeit ist Zwang, das war sie im Kapitalismus schon immer, aber wie sehr sie das ist, das kommt gerade besonders heraus – so wie viele Probleme und Paradoxien dieses Systems sich gerade in der Coronakrise zeigen. Wir arbeiten, damit wir leben dürfen. Und die Arbeit vereinzelt uns, denn sie setzt uns in Konkurrenz zueinander, sie stempelt uns zu Individuen im luftleeren Raum, sie lässt uns uns gegenseitig ausstechen.

Sich zu organisieren, um sinnvolle Lösungen zu finden – denn natürlich heißen Lockerungen oft auch für Frauen, keine Doppelbelastung mehr tragen zu müssen, heißen für Kinder wieder gleichberechtigter lernen zu dürfen, heißen soziale Kontakte, und das ist ja alles wichtig – das wäre im Moment so wichtig, wie lange nicht. Sich mit Betroffenen zusammenzutun, mit Menschen, die in der Praxis stecken, Wege zu suchen, wie wir das Leben im Moment für alle besser machen, wie wir Ungerechtigkeiten auffangen und wie wir trotzdem alle schützen, so gut es irgend möglich ist, das bräuchte es jetzt. Es bräuchte Solidarität statt Vereinzelung, Zusammenarbeit statt Konkurrenz.

Der 1. Mai hat gezeigt, wie schwierig es ist, sich in Zeiten von Corona – ja, es ist eine eigenen Zeit, mit eigenen Bedingungen, mit denen wir wohl noch eine ganze Zeit leben lernen müss(t)en – zu organisieren. Nicht, dass es vorher einfach gewesen wäre. Aber der 1. Mai hat auch gezeigt, es geht trotzdem. Denn es ist trotzdem und gerade jetzt wichtig. Arbeit im Kapitalismus war schon immer elendig und vereinzelt. Aber heute heißt sich gegen den Zwang dieser elendigen, vereinzelten und heute auch noch Ansteckungs- und damit Lebensgefahr schaffenden Arbeit zu organisieren potenziell Menschenleben zu retten.

Schafft Solidarität mit Risikogruppen, schafft Solidarität miteinander. Lasst Menschen nicht mit (Überlebens-)Entscheidungen allein. Wir alle haben sie bitter nötig.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden