Wenn die Elite vergewaltigt

Sexualisierte Gewalt #MeToo hat die französischen Eliteuniversitäten erreicht. Gut so. Das Problem war lange offensichtlich, und alle haben weggeschaut

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Die französische Feministin und Influencerin Anna Toumazoff bei einer Demonstration im Juli 2020
Die französische Feministin und Influencerin Anna Toumazoff bei einer Demonstration im Juli 2020

Foto: Aris Oikonomou/AFP/Getty Images

„Ich heiße Juliette, ich bin 20 Jahre alt und heute schreibe ich euch, denn am IEP [Institut d’Études Politiques, das Eliteuninetzwerk Frankreichs] Toulouse werden wir vergewaltigt, in Toulouse werden wir beleidigt und in Toulouse werden wir kaum gehört.“

So beginnt der offene Brief einer Studentin, den diese vor ein paar Tagen in die frankreichweite Facebookgruppe der Student*innen des Eliteuninetzwerks des Landes gestellt hat. Seitdem ist einiges passiert. Es wurde Zeit.

Auf Instagram wird #MeToo an die Universitäten gebracht

Sonntag, 7. Februar. Auf den offenen Brief haben mittlerweile über 3.000 Menschen reagiert. Er wurde weiter geteilt und kommentiert, und ist bei der jungen Feministin und Influencerin Anna Toumazoff gelandet, die unter @memepourcoolkidsfeministes schon lange über studentische Erfahrungen und Feminismus bloggt. Sie greift das Thema auf, teilt ihre eigenen Erfahrungen und ruft dazu auf, ihr eigene Geschichten zu erzählen. Ganz nach dem Motto von #MeToo: Wir werden ihnen zeigen, dass das kein Einzelfall ist.

Schon am Abend teilt sie dutzende Nachrichten mit Erfahrungen. Es scheint, als ob viele nur darauf gewartet hätten, endlich reden zu können. Frauen erzählen vom toxisch-sexistischen Klima an der Universität, von sexistischen Witzen, Beleidigungen. Sie erzählen von Belästigungen und Vergewaltigungen bei gemeinsamen Abenden unter Kommiliton*innen und davon, dass ihnen nie geglaubt, nein, sie von den Verantwortlichen der Universität sogar noch selbst beschuldigt wurden. Schnell stellt sich ein Muster heraus: Sexuelle Belästigung wird nicht nur akzeptiert, sondern noch gefördert, Anklagen wird nicht nachgegangen, sondern mit System abwehrend begegnet. Kuriosität am Rande: Alle wohl doch zu offensichtlichen Vergewaltiger werden an den immer gleichen Campus abgeschoben, nach Reims. Sehr effektiv.

Montag, 8. Februar. Anna Toumazoffs Social-Media-Kanäle werden mit Nachrichten überschwemmt, Freundinnen von ihr springen mit ein, um alle Nachrichten zu sichten und gut sortiert weitergeben zu können. Sie machen dutzende Stories mit hunderten Nachrichten von Vergewaltigungen, sexuellen Belästigungen, Beleidigungen, die aus beinahe allen Standorten des Eliteuninetzwerkes stammen. In so gut wie allen großen Städten Frankreichs ist das Netzwerk vertreten, bildet die zukünftige „Elite“ der Politik und Wirtschaft aus. Auf Instagram werden die Universitäten aufgerufen, zu reagieren, ihre Seiten werden mit Nachrichten geflutet. Der Direktor des IEP Toulouse reagiert als erster (und derzeit noch einziger), er hört sich Juliettes Erfahrungen an und bringt mehrere Steine ins Rollen.

Keine Namen und doch so bekannt

Eine Freundin, die schon vor mir an der Eliteuniversität in Rennes studiert hat, schreibt mir, dass sie das alles sehr mitnimmt; ihr würden die Geschichten auch ohne Namen genau sagen, um wen es geht. Denn es werden keine Namen genannt, darum geht es nicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diejenigen, die tiefer in den Netzwerken stecken als eine internationale Studentin wie ich, an ihrer Universität meist genau wissen, wer gemeint ist. An den Universitäten sind jeweils nur etwa 300 bis 500 Student*innen – zu wenige, um die herausstechenden Übeltäter nicht wenigstens wahrgenommen zu haben. Denn herausstechen, das tun sie wohl, so selbstsicher wie sie in dem sind, was sie tun.

Ein anderer Freund, der mit mir dort war, verkörpert erst einmal perfekt den Stereotypen des Zweiflers: Es gilt die Unschuldsvermutung! Eigentlich zu platt, um zu antworten. Es werden keine Namen genannt, es gibt (noch) keine Anklage, es gibt keine „Hexenjagd“, falls das befürchtet wird. Eigentlich zeigt die Aktion (bisher) ziemlich perfekt, worum es den Student*innen geht: Es sind die Strukturen, die sich schon viel zu lange und viel zu tief in diese Elitenetzwerke eingeschlichen haben und eine „Rape Culture“ ermöglichen. Dafür braucht es keine Namen. Hunderte ähnliche Erfahrungen sprechen für sich.

Dienstag, 9. Februar: Erste französische Medien nehmen sich des Themas an, L’Obs will darüber schreiben, madmoizelle ebenfalls, verschiedene Journalistinnen rufen Zeug*innen auf, sich bei ihnen zu melden, Anonymität garantiert. Währenddessen halten die Universitätsleitungen immer noch die Füße still. Mal sehen, wie lange das noch möglich ist. Denn dass sexualisierte Gewalt an ihren Universitäten ein Problem ist, das ist den allermeisten nicht erst seit heute bewusst. Das Umfeld ist viel zu perfekt toxisch dafür.

Elite einer patriarchalen, hierarchischen, toxischen Konkurrenzgesellschaft

Die IEPs, die Eliteuniversitäten Frankreichs, bilden ein eigenes Netzwerk, das sehr hohe Aufnahmebedingungen hat, das Bestehen eines sehr schweren Aufnahmetests fordert und bis vor kurzem auch noch sehr teuer war (erste Demokratisierungsversuche haben seit Neustem die Unigebühren an das Einkommen der Eltern gekoppelt). Quasi die komplette politische und wirtschaftliche Elite Frankreichs durchläuft mindestens eine dieser Universitäten. Sie sind darauf ausgelegt, die Führungskräfte von morgen auszubilden (wie das in eine Gesellschaft von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ passt, ist noch eine ganz andere Frage). Konkret: Wer heute Politier*in ist, war gestern Student*in dort, und wer heute Student*in dort ist – ist morgen sehr wahrscheinlich ziemlich weit oben in der französischen Gesellschaft.

Und das lassen die Student*innen gerne raushängen, auf viele Arten und Weisen. Viele schreiben, dass sie nachvollziehen und nachfühlen können, was sie in Juliettes offenem Brief lesen. Denn sie schreibt davon, wie sie sich auf dieses Studium gefreut, hart dafür gearbeitet hatte – um festzustellen, dass sie sich die Elite des Landes ganz anders vorgestellt hatte. Es herrscht ein sehr harter Konkurrenzdruck, der Zusammenarbeit sehr schwer macht und ein toxisches Klima schafft. Die Elite zu sein ist nicht so einfach und gleichzeitig lässt sich aus dieser Position wunderbar auf den Rest herabschauen – und wenn das auch erst einmal die Erstsemester*innen sind, wie Juliette eine ist. Es ist ein Klima, das Machtversessenheit schafft – womit wir wieder bei Vergewaltigung wären.

Das Umfeld in den Universitäten sei ein sehr männliches, sehr hierarchisches, in dem Frauen einfach untergehen und zu verschwinden scheinen – und bestenfalls Deko sind, schreibt Juliette. It’s the patriarchy, stupid. Was auch sonst. Und die männlich-hierarchische Weltsicht wird überall auf die Spitze getrieben: Da sind die Einführungsabende, auf denen den Neuen zur „Aufnahme“ in die „Gemeinschaft“ aller Art erniedrigende Aufgaben gestellt werden. Da sind die „Sportevents“, zu denen sich alljährlich alle Eliteuniversitäten treffen – und vor allem Trinksport betreiben. Und am Ende gibt es Trophäen für denjenigen, der am meisten „Sex“ hatte, der am meisten „rumgekriegt“ hat, und das ist völlig normal. „Du hast mich vergewaltigt und vergewaltigt und vergewaltigt“, und dann hast du es deinen Freunden erzählt, und die fanden dich toll, schreibt Juliette. Es geht um Macht.

Wenn die Vergewaltiger in den antisexistischen Komitees sitzen

Vor ein paar Jahren, als es die ersten Aufschreie zu Sexismus an der Universität gab, wurde an der Universität in Rennes ein „Antisexistisches Komitee“ gegründet, um bei Fällen von sexualisierter Gewalt aller Art zu helfen. Nur, dass wohl genau diejenigen dort saßen, mit denen man am allerwenigsten über Vergewaltigung und ähnlichen reden wollte, nämlich die Vergewaltiger selbst. So sagen es mehrere Zeuginnen auf Instagram. Mal abgesehen davon, dass gemutmaßt wird, dass es dabei sowieso vor allem um die Reputation der Universitäten selbst ging, treibt das das Spiel ab adsurdum.

Was passiert jetzt? Das wird sich zeigen. Ein erster Direktor hat reagiert, das ist gut. Aber es wird nichts lösen. Es ist ein strukturelles Problem, das sich nicht mit ein paar Zusagen und Komitees lösen lässt (auch wenn das immerhin ein Anfang ist). Eine Universität, die auf Elitarismus, Hierarchie und Klassismus aufgebaut ist, wird sich nicht morgen von diesen Prinzipien verabschieden. Eine Gesellschaft, die von Patriarchat und Sexismus durchzogen ist, wird das nicht zuerst in den Universitäten, die die Spitze der Gesellschaft ausbildet, die genau das am besten aufrechterhalten soll, verändern. Trotzdem: Jedes geschützte Leben ist es wert, es wenigstens zu versuchen.

Deswegen: #balancetonSciencesPorc (angelehnt an #balancetonporc = „Verpfeif dein Schwein“, die französische Version von #MeToo). Erkenntnis ist der erste Schritt, und dazu müssen wir sie wohl eben zwingen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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