Die Prosa meines Lebens

Rückblick Wie ich wurde, was ich bin – eine Danksagung an den Literatur- und Offiziersbetrieb

Wir rasten im weinroten Saab 900, meinem gepanzerten Nicht-Ich, das mich vor allem an die Sportkleidung meiner Schulzeit unter den Radebeuler Weinbergen erinnerte, durch den Schneematsch über die noch alte DDR- und teilstreckenweise noch ältere Autobahn Richtung Naumburg, um Braschs Kindheit in der sowjetisch medelierten Kadettenanstalt nachzuspüren, als er meinte, er würde gern ein Buch schreiben, das nur aus ersten Zeilen, ersten Versen besteht. Ein Buch aus nichts als Anfängen. Nachts, während der Rückfahrt über Land, noch in den sanften Hügeln nördlich der Kleinstadt, seine in allerhöchster Not schurwollgrau gekrümmte, diskantierende Embryonalstimme aus dem Fond: „Mein Teddybär liebte seine russische Infanteristenuniform und ich liebe meinen Teddybären.“ Danke Thomas.

Dass es nicht um Schuld gehe, sei eine Legende aus Zeiten postarchaischer Gesellschaften. Ein Konzept, das darauf abziele, alles Menschliche auszuschließen. Eine Geschichte nicht zu erzählen, sondern sich aufzuheben in ihr, das sei die feige Vereinbarung. Denn alle wirklichen Geschichten handelten von nichts anderem als fassbarer Schuld vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, den Pawel Florenski, der russische Mathematiker, Philosoph und Priester 1919 in Die umgekehrte Perspektive als illusionistische Dekorativität durchschaut hat.

„Wenn du das aufführst“, sagte Müller, nachdem er minutenlang auf den Platz vorm dem Schaufenster, in dem wir saßen, hinausgeschaut hatte, „bist du ’raus aus den Zusammenhängen. Das kannst du nur, wenn du die nicht nötig hast. Also, wenn es dir tatsächlich genügt, sagen wir, am Rennsteig Wandern zu gehen, dann ist es gut, dann kannst so über dich schreiben, dass jeder, der es liest, seine spezielle Schuld mitlesen und wachrufen muss.“ Wir saßen, während der Leipziger Buchmesse, als sie noch im Messehaus am Markt stattfand, in einem leeren Café hinter der Thomaskirche. Ich dachte an Novalis und sein Bild von den alten Vasen, in denen die neuen Gleichnisse blühen, während Müller mir noch etwas von knarrenden Dielen unter den Stiefeln der nichtveröffentlichten Albträume unserer urdeutschen Reiseschriftstellerei zumurmelte. Danke Heiner.

Quark im Schaufenster

Ich hatte die Stimme sofort wiedererkannt. Die Telefonstimme meines Führungsoffiziers Reuter. Wir müssten uns treffen. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen hatten – Dezember 1989, im frühen Abendschwarz einer trostlosen Betonpiste nahe Schönefeld –, war ich von Oberst Reuter a. D. und seinem Adlatus Major Heimann a. D. hinter den atembeschlagenen Scheiben eines abgewirtschaften Wartburgs pathetisch aus meinen Diensten für die Staatssicherheit entlassen worden. Wenn ich Kontakt zu ihnen aufnehmen wolle, solle ich mich vertrauensvoll an ihre treue Mitstreiterin, die Schauspielerin A. B. (Name geändert), Stalinallee (Name geändert) 123 (Nummer geändert) wenden. Unter ihren Woolworth-Stepp­jäckchen klirrten die Orden.

Nun, fünf Jahre später, trafen wir uns im Shoppingcenter einer Autobahnraststätte am südlichen Berliner Ring. Aus purer Panik, wieder in die konspirative Scheiße zu schlittern, hatte ich immerhin meinen Freund Papenfuß vorinformiert. Zwar war Reuter jetzt mit der Runderneuerung alter Lastwagenreifen und seiner Übersiedlung in eine DDR-Frührentner-Enklave an der Costa del Sol beschäftigt, hatte nebenher aber einen Enthüllungsroman verfasst, für den er einen Verlag suchte.

Als ich die Halbspirale der freischwingenden Föhrenholztreppe zum Frühstücksbuffet hinaufstieg, hatte Reuter das Terrain schon eine Stunde lang sondiert. Es war sauber. Der Held seines Buches sei ich. Da war Der stille Freund von John le Carré noch Quark im Schaufenster. Ja, so sieht es aus, The End of History and the Last Man: zwei leere und ein halbvolles Glas Pfefferminztee, auf den Untertassen sieben aufgerissene, durchgeweichte Mövenpick-Zuckerpäckchen und ein frischgebrühter, durchsichtig dünner, schwarzer Kaffee um acht Uhr morgens. Danke Wolfgang.

Im Februar 2002 stand ich – nach der 3Sat-Sendung Literatur im Foyer zu meinem Buch Sascha Anderson vor dem Pinkelbecken jenes italienischen Restaurants um die Ecke, in das die Veranstalter nach der Aufzeichnung obligatorisch einladen, als die Schwingtür ging und wie der Geist aus der Flasche der Ex-Kollege Buch direkt neben mir zu stehen kam. Ich verzeihe mir mein verrauschtes Gedächtnis – ich hörte von der Kachel her und sprach zur Kachel hin –, denn ich mochte ja auch nicht den Kopf drehen und senken, nur um auf die Frage, was man jetzt für mich tun könne, um mir im Literaturbetrieb den mir zustehenden Platz wieder einzuräumen, bescheiden zu antworten, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse.

Ich werde jetzt keineswegs behaupten, ich sei nie am Literaturbetrieb interessiert gewesen. Denn ich habe alles getan, was ein junger Freischaffender tun kann, um aus dem Nebel seines von der Kunst verwirrten Denkens und Fühlens die überlebensnötigen Funken zu schlagen; und um es gleich deutlich hinterherzuwerfen, diesbezüglich bin ich auf nichts stolz, außer auf die Künstlerbücher, die jede maßgebliche Ausstellung zum Thema präsentiert, ohne sich auch nur zu einem Halbsatz nicht einmal der Nichtwürdigung herabzulassen. Als ich 1979 aus dem Gefängnis entlassen wurde, war die einzige mir gebliebene Angst die, jemals wieder ins Gefängnis zu müssen. Seit ich aus dem Literaturbetrieb entlassen wurde, bin ich endlich auch diese los.

Schwingtür zum Pissoir

Sascha Anderson ist vielleicht nichts als der Selbstversuch, textuell eine verheerende Beschleunigung zu simulieren, und sicher kein Neuanfang, aber „es“ bildet wenigstens die brüchige Grundlage dessen, wovon ich schreibe und schreiben werde, solang die Pumpe irgendwie funktioniert – oder die Schwingtür zwischen nach Pissoir stinkendem Restaurant und nach Küche stinkendem Pissoir. Und dass ich im Unterschied zu unseren weltläufigen Vordenkern meine, Literatur muss „ich“ sagen, selbst wenn es weh tut, lächerlich wirkt, weltfremd oder kostenlos ist, weil es von halbleeren Hosentaschen handelt – dafür: Danke Hans Christoph.

Denn wir, und glauben Sie mir, nicht nur wir beide haben ja über alles gesprochen, und zwar Klartext, und zwar immer (siehe unten), wenn gerade keine Kamera dabei war; und ich hatte sogar ein kleines Gedicht aufgesagt vor laufenden Kameras, das Sie hernach unter vier bis sechs Augen großartig fanden, lieber Corino, hr-Redakteur i. R., und vielleicht haben Sie nur deshalb keinen der Leitz-Ordner mit meinen Täter-Akten aufgeschlagen, deren Hingestelltheit neben Ihren Stuhl das Publikum längst mehr beeindruckt hatte, als hätten sie draus vorgelesen, um der Prosa meines Lebens nicht noch jene Schuld zu nehmen, die bei laufender Kamera unser Menschsein mit einer Gesellschaft verkleistert, die – höchstwahrscheinlich aus gutem Grund – ihre Schuld am Schuldenberg des Einzelnen ablädt (wie sonst; siehe oben). Und was wäre wem schon geholfen, wenn es diesen, den Einzelnen wie mich, dann auch noch öffentlich reute. Danke Karl.

Es gibt Leistungen und Gegenleistungen, die heben sich allemal auf. Zum Beispiel: In einer 1997 erschienenen hämischen Kritik zu meinem Gedichtband Herbstzerreissen monierte der Publizist Schwenger einen falschen Accent und einen Absatz später eine Ode an Klopstock, den er Kloppstock schrieb. Das ist tröstlich. Kein Wort hat er verloren über einen Sechszeiler im selben Band. (Elegie VII // Wirst Du, Kartenhaus, mich mit dem dreiunddreißigsten / Deiner Bilder betrüben, oder ist es naiv / Wenn die Grenze mir einstürzt, das Äußerste, zu wagen, / das Medium, das Herz, für die noch schönere Münze. / Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen / Schuld und Sühne, ich weiß, welche die Liebste mir ist //). Auch seither habe ich nichts geschrieben, das nicht mit meinem Leben, meiner unmittelbaren Erfahrung zu tun hat. Die Konstruktionen der Selbstgerechten liegen mir nicht. Und die Maßstäbe weder der Kunst noch des Lebens verlieren sich doch nicht, bloß weil man ihnen nicht genügt.

Die große Geschichte ist allemal in jedem nichtgeschriebenen Gedicht mehr bestens aufgehoben, unsere winzig kleine Geschichte jedoch handelte von ausgleichender Selbstgerechtigkeit. Danke Hannes.
Post scriptum: 1992 hat mir die Freundschaft mit Allen Ginsberg das Leben gerettet. Ginsberg (erklärter Buddhist) lud mich während seines letzten einwöchigen Berlinaufenthalts mehrmals zum Frühstück in sein Hotel ein, um, noch vor dem Frühstück, mit mir („Wrong breathing is the base of your snitch-desaster“) Atmen zu üben: Ausatmen.

Zur Verdeutlichung – die Nichtraucher mögen es verzeihen oder in etwas ebenso Starkes außerhalb meiner Erfahrung übersetzen –, beim Rauchen ziehen wir relativ heftig und schnell, um dann in mindestens der zwei- bis vierfachen Zeit des Inhalierens, und verzeihen Sie nochmal, diesmal den plumpen Genitiv, beim Ausstoßen des Rauchs die Gewalt der Lust zu spüren. Die Lust, die die Fugen gleich Versbrüche der Sucht gleich Leben bildet. Ausatmen bis zum Ende.

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