Heb nicht den Kopf!“ Diesen Befehl gibt sich Yoav immer wieder. Bei jedem seiner Gänge durch die Straßen von Paris murmelt er den Satz, wenn er nicht gerade halblaut Synonyme auf Französisch herunterrasselt. „Heb nicht den Kopf!“, das ist das Mantra des jungen Israeli, der auf radikale Weise mit seiner Heimat gebrochen hat. Yoav will nicht mehr der sein, zu dem ihn Israel und sein Militär gemacht haben. Er will ein anderer werden, ein Franzose wie der wohlhabende und weltgewandte Emile. Also darf er sich nicht von den allgegenwärtigen Sehenswürdigkeiten ablenken lassen, sonst wäre er nur ein weiterer Tourist.
Das ist es zumindest, was sich Yoav selbst einredet. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Er will sich eben nicht eingestehen, dass
hen, dass er eigentlich nichts sehen will, dass er neben seinem Land auch die Wirklichkeit hinter sich lassen will. Wer den Kopf nicht hebt, kann ganz in ihm leben. Er, der sich immer anpassen musste, dem Leben in Israel, den Gesetzen der Armee, plant nun, die Welt nach seinem Willen und seinen Vorstellungen zu formen. Das kann natürlich nur schiefgehen. Aber darum geht es nicht. Yoavs an Sturheit grenzende Entschlossenheit, mit der er die Realität seiner Sehnsucht unterwerfen will, hat etwas Glanzvolles und Heroisches.Die großen, tragischen Verlierer sind letztlich viel reizvollere Helden als die Sieger, die nur Gewalt, aber keine Zweifel und Ängste kennen. Das hat Yoav instinktiv schon als kleiner Junge gewusst. Damals haben ihm seine Eltern die Geschichte von Hektor erzählt. Allerdings nicht ganz bis zum Ende. Das grausige Schicksal des Kriegers, dessen Leiche der Grieche Achill an seinem Streitwagen befestigt hat, um sie wieder und wieder um die Stadtmauern von Troja zu schleifen, wollten sie ihrem Sohn ersparen. Doch der Junge machte sich seine eigenen Gedanken und ahnte, dass Hektor die Konfrontation mit Achill nicht überlebt hat. Und doch ist der Trojaner immer Yoavs Held geblieben. Noch 20 Jahre später erzählt er begeistert und voller Bewunderung von dem legendär gewordenen Moment, in dem sich Hektor und Achill erstmals gegenüberstanden und der Trojaner erst einmal die Flucht ergriff.Der Verlierer ist der HeldWie Hektor, der siegesgewiss aufs Schlachtfeld getreten ist, nur um dann den Mut zu verlieren, ist auch Yoav erst einmal nicht zu bremsen. In dem Augenblick, in dem er in Paris ankommt, scheint ihn nichts aufhalten zu können. Selbst als ihm all seine Habseligkeiten gestohlen werden und er in einer ungeheizten Wohnung beinahe erfriert, bleibt er voller Hoffnung. Sein Plan, seine alte Identität auszulöschen und sich in einer fremden Sprache neu zu erfinden, muss einfach gelingen. Diese Unbedingtheit, in der sich Naivität und ein künstlerischer Größenwahn mischen, schlägt nicht nur Emile und dessen Freundin Caroline in den Bann.Die beiden haben Yoav vor dem Erfrieren gerettet. Sie bieten ihm sogar ein Zimmer bei sich an. Aber er will es unbedingt ohne fremde Hilfe schaffen. Nur von dem dunkelgelben Wollmantel, den ihm Emile schenkt, kann er sich nicht trennen. Er wird zu seiner zweiten Haut, einem Zeichen seiner Wiedergeburt. Wie sein eigenwilliges, sich in barocken Wortflüssen ergießendes Französisch weist auch dieser Mantel ihn als eine Art Dandy aus.Eine ganz eigene Aura umgibt den von dem Debütanten Tom Mercier gespielten Yoav. Auf der einen Seite verströmt er diese ungeheuere Virilität, die in Nadav Lapids Synonymes typisch für die männlichen Exil-Israelis zu sein scheint. Andererseits hat er aber auch etwas Sanftes und Zerbrechliches an sich. In diesem kräftigen, sein Umfeld sofort dominierenden Körper, der tatsächlich etwas von einem antiken Helden hat, verbirgt sich die Seele eines Poeten. Und so tragen die obsessiven Litaneien von Synonymen, die er vor sich her betet, um die fremde Sprache zu meistern, durchaus lyrische Züge. Es sind die bizarren Gedichte eines Fremden, der anderen eine neue Perspektive eröffnet. Nicht ohne Grund sucht Emile, der reiche Industriellensohn, der davon träumt, ein großer Romancier zu werden, Yoavs Nähe. Dessen Geschichten sollen sein Material werden.Wie zu Hektor führt von Yoav auch eine direkte Linie zu seinem Schöpfer, dem israelischen Schriftsteller und Filmemacher Nadav Lapid. Wie sein Protagonist ist er aus Israel nach Paris geflüchtet. Wie Yoav wollte er niemals mehr ein Wort Hebräisch sprechen. Und wie dieser lächerliche und doch strahlende Held, der einmal einfach die Tore der israelischen Botschaft für alle Wartenden öffnet, hatte auch er eine sehr eigene Vorstellung von Frankreich und der Welt. Aber das Autobiografische ist nur eine Spur, die Lapid legt, um dann vom Weg abzuschweifen und einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Wie Yoav starrt auch die Kamera fortwährend aufs Trottoir. Yoavs Blick auf die Straßen und Gehwege ist dann auch der des Publikums. Für ein paar Momente scheint der Film eins mit dem traumatisierten jungen Mann zu werden, dessen Erzählungen vom Militär schnell ins Surreale wechseln, nur um schließlich mit einem Schwenk ihn selbst in den Blick zu nehmen.Dieses formale Wechselspiel von Nähe und Distanz, das den Zuschauer ohne Orientierung zurücklassen kann, zwingt ihn zudem, die Bilder und Geschichten fortwährend zu hinterfragen. Yoavs beinahe göttlicher Zorn auf Israel, der sich in der an Moses erinnernden Geste entlädt, mit der er die Pforten der Botschaft öffnet, und seine wilde Liebe zu Frankreich bringen nichts als Verzerrungen hervor. Das eine ist die Kehrseite des anderen, und spätestens wenn er im Französischkurs für Immigranten den blutrünstigen Text der Marseillaise schmettert, gibt es keinen Zweifel mehr, dieser Träumer kommt vom Regen in die Traufe.Placeholder infobox-1
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