„Der Künstler muss über die Schönheit seines Landes wachen, egal wo“, verkündet der chilenische Bildhauer Francisco Gazitúa gegenüber Patricio Guzmán mit einer Bestimmtheit, die etwas Befreiendes, aber auch etwas Verstörendes hat. Er stellt damit eine immense Forderung an sich selbst wie an seinen Gesprächspartner, der ihn gerade in seinem Atelier am Fuß der Anden filmt. Über die Schönheit des eigenen Landes zu wachen, heißt eben nicht nur, sie einzufangen und abzubilden. Der Künstler, den Gazitúa vor Augen hat, stellt sich zugleich allen entgegen, die seine Heimat von außen bedrohen oder von innen heraus zerstören. Er ist ein Einsamer, der alleine auf andere Künstler und noch auf geistes- und wesensverwandte Wissenschaftler bauen kann, genau wie Guzmán, der in seinen Dokumentationen neben den Opfern der Militärdiktatur immer wieder Künstler und Wissenschaftler zu Wort kommen lassen hat.
Nur wenige Tage nach Pinochets Putsch am 11. September 1973 wurde Patricio Guzmán verhaftet und gefoltert. Die Militärs wollten so das Filmmaterial in ihre Hände bekommen, das der 1941 in Santiago de Chile geborene Regisseur in den Wochen und Monaten vor dem Staatsstreich gegen die Regierung Salvador Allendes gedreht hatte. Doch Guzmán hat standgehalten und konnte, nachdem er aus der Haft entlassen worden war, ins Exil gehen. Das so gerettete Filmmaterial war der Grundstein für seine erste große Trilogie La Batalla de Chile. Seither kreist jeder seiner Dokumentarfilme um die Geschichte und die Gegenwart Chiles. Noch aus der Ferne des Exils, das ihn über Kuba und Spanien schließlich nach Paris geführt hat, wacht Guzmán unermüdlich „über die Schönheit seines Landes“.
Geografie und Politik
2010 hat Guzmán in Nostalgia de la Luz Astronomen porträtiert, die im Norden Chiles, in der Atacama-Wüste, mit riesigen Teleskopen nach dem Ursprung des Universums forschen. Ihre Suche spiegelt sich dabei in der Suche einiger Frauen, die Tag für Tag die Wüste nach den Überresten der Verschwundenen der Militärdiktatur durchkämmen. Guzmáns dokumentarischer Blick, der voller Poesie ist und zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse messerscharf durchdringt, stellt Bezüge und Verbindungen zwischen der Geografie Chiles und der Politik her, zwischen der großen menschlichen Sehnsucht, dem Ursprung allen Lebens auf die Spur zu kommen, und dem nicht weniger mächtigen Drang, das Geschehene zu verdrängen und zu vergessen.
So wie in Nostalgia de la Luz die Atacama-Wüste, die alles, was in ihr verscharrt wird, mumifiziert und damit auf ewig erhält, ein Sinnbild für das Wirken von Geschichte ist, so hat Guzmán fünf Jahre später in Der Perlmuttknopf den Pazifik, der Chile in dessen äußersten Süden in ein Archipel kleiner Inseln verwandelt, metaphorisch aufgeladen. Das Wasser wird zum Bild für die Ströme von Blut, die vergossen wurden. Aber das ist nur die eine Seite der Metapher. Die andere zeugt von der tiefen Verbindung zwischen der Natur und dem Menschen. Die Strömungen des Meeres und der Flüsse korrespondieren mit den Strömen der Erinnerungen, die sich verlieren. Die Leichen, die in den Jahren der Militärdiktatur im Meer versenkt wurden, sind verschwunden und haben doch Spuren hinterlassen. Die chilenische Gesellschaft kann versuchen, sie zu vergessen, aber der Fluss der Filmbilder treibt sie zurück an die Oberfläche des persönlichen wie des kollektiven Gedächtnisses.
Mit Die Kordillere der Träume, dem abschließenden Teil seiner Trilogie, wendet sich Guzmán nun der Gebirgskette der Anden zu, die Chile vom Rest der Welt abschneidet und das ganze Land in eine Art Insel verwandelt. Die Kordillere verbindet den Norden mit dem Süden, die Atacama-Wüste mit Westpatagonien. Sie ist überall im Land präsent und wird doch kaum zur Kenntnis genommen. Schon das ist ein überwältigendes Bild für Guzmáns Sicht auf seine Heimat: Auch Pinochets Regime, das sich 1980 eine noch heute geltende Verfassung gegeben hat, ist in Chile noch allgegenwärtig.
Die Weichen, die von den Militärs und ihren wirtschaftlichen Beratern aus den Vereinigten Staaten gestellt wurden, garantieren neoliberalen Projekten weiterhin freie Fahrt, und das im wahrsten Sinne. In einer Sequenz zeigt Guzmán die endlosen Güterzüge, die tagtäglich durch die Anden in Richtung Pazifik rollen und die chilenischen Bodenschätze abtransportieren. Diese Züge sind immer da und werden doch praktisch nie gesehen. Es braucht den Blick des Künstlers und Filmemachers, um die Bedeutung dessen, was gewöhnlich erscheint, ins Bewusstsein zu rufen.
Immer wieder fliegt die Kamera über die Anden. Es sind Bilder von malerischer Schönheit. Das Erhabene der Natur – ihre majestätische Größe und ihre Zeitlosigkeit – findet in ihnen einen grandiosen Ausdruck. Auch die Berge stehen bildlich für das Gedächtnis des Landes. Guzmán findet ein brillantes Bild dafür: Einmal schneidet er von den Bergen von Videokassetten, die der Filmemacher Pablo Salas seit 1982 angehäuft hat, auf die Kordillere. Das Gebirgsmassiv gleicht den Bildern, die Salas von den Protesten gegen die jeweils herrschenden Regierungen aufgezeichnet hat. Dabei ist die Gewalt des Militärs, die er abbilden konnte, nur wie die äußerste Schicht eines Berges. Das, was unter ihnen liegt, die Folterungen und Morde, konnte Salas nicht aufzeichnen. Aber sie sind präsent in seinen Aufnahmen wie auch in den Filmen Guzmáns.
Info
Die Kordillere der Träume Patricio Guzmán Chile / Frankreich, 84 Minuten
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