Geschichte ohne Heldin

China Jia Zhangke erzählt von der Emanzipation einer Frau und den Lügen des Kinos
Ausgabe 09/2019

Die Bilder sind zu schmal. Sie füllen die Leinwand nicht aus. Rechts und links bleiben schwarze Flächen frei und heben den authentischen Charakter der Aufnahmen aus einem Bus hervor. Die dokumentarischen Bilder von müden, abgearbeiteten Bergarbeitern und einer jüngeren Frau sind nicht Teil der Geschichte, die folgen wird, und doch gehören sie dazu. Jia Zhangke hat sie vor etwa 20 Jahren mit einer DV-Kamera in der nordchinesischen Bergbauregion aufgenommen, in der er selbst aufgewachsen ist. Nun verankern sie seinen zwischen Genrekino und Cinéma vérité schwankenden Spielfilm in einer Wirklichkeit, die mittlerweile untergegangen ist. Die Konventionen des Erzählkinos verleiten einen, die Bilder aus dem Bus nach Gesichtern abzusuchen. Irgendjemand muss sich doch als Protagonist erweisen. Aber es gibt in diesen Videobildern keine Protagonisten, sondern nur Menschen, die irgendwohin unterwegs sind.

Die Realität kennt weder Hauptdarsteller noch Helden. Das will der aufstrebende Gangster Bin (Liao Fan) aber nicht wahrhaben, und auch seine Geliebte Qiao (Zhao Tao) wähnt sich als Heldin einer großen Liebesgeschichte. Bin lebt sein Leben, wie es ihm die Figuren in Gangster-Filmen vormachen. Wie sie hat er sich einen privaten Wertekodex erschaffen, der seine Handlungen rechtfertigt. Tatsächlich erweist er sich in Krisensituationen als erstaunlich verständnisvoller Gangsterboss, der zwei junge Schläger, die ihn überfallen haben, in seine Gang aufnimmt, statt ein Exempel an ihnen zu statuieren. Die Unterwelt, an die er glaubt, ist zugleich eine Gegenwelt zur chinesischen Wirklichkeit, in der ein einzelner Mensch kaum etwas zählt.

Als Tochter eines Bergarbeiters und überzeugten Sozialisten, der ohne Rücksicht lautstark gegen die Firmenpolitik seiner Bosse und damit auch gegen die Politik der Partei protestiert, hat Qiao andere Ideale als ihr Geliebter. Sie hält die Unterwelt, deren Herrscher Bin sein möchte, für einen Kinomythos, von dem er sich möglichst schnell lösen sollte. Aber letzten Endes ist sie es, die sich für immer in dieser sehr realen Scheinwelt verfängt. Die Liebe, wie Qiao sie aus melancholischen Popsongs und Filmen kennt, erfordert unverbrüchliche Treue. Ihr muss sie alles andere opfern. Also nimmt sie Bins Waffe in die Hand und feuert zwei Schüsse in die Luft ab, als eine Gruppe jugendlicher Angreifer droht, ihn zu töten. Nur ist alleine schon der Besitzer illegaler Schusswaffen in China strafbar. Und weil sie nicht bereit ist, ihren Geliebten an die Polizei zu verraten, wird sie schließlich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als sie 2006 aus der Haft entlassen wird, macht sie sich sofort auf die Suche nach Bin, der sie nicht ein einziges Mal im Gefängnis besucht hat. Die Reise führt sie aus ihrer Heimatprovinz Shanxi im Norden Chinas in den Süden des Landes, wo Bin versucht, seiner Vergangenheit und damit auch ihr zu entfliehen.

Action trifft Realismus

In drei Kapiteln, die einen Zeitraum von 20 Jahren umspannen, erzählt Jia Zhangke von Qiaos Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Im ersten, im Frühjahr 2001 spielenden Teil steht noch Bin im Zentrum. Er ist praktisch die Sonne, um die Qiao kreist. Sie spricht und handelt für ihn und nimmt – ganz die tragische Liebende – seine Schuld auf sich. Die Rollen sind in dieser von Kinobildern geprägten Konstellation klar verteilt. Der Mann ist der heroisch Handelnde, die Frau die still Leidende. Doch solche Muster können in einer von rasanten Veränderungen geprägten Gesellschaft wie der chinesischen der Wirklichkeit kaum standhalten. Qiao wird fortwährend enttäuscht und muss sich, um zu überleben, von ihren Vorstellungen lösen. Aus der eher passiven Geliebten, die von einer Liebe träumt, die so heiß brennt wie ein Vulkan, wird nach und nach eine Frau, die sich von Männern nichts mehr sagen lässt. Am Ende der Geschichte hat sie Bins alten Platz in der Halbwelt von Datong übernommen. Vulkanasche mag reines Weiß sein, aber im Leben wird Makellosigkeit immer ein Traum bleiben, den hinter sich lassen muss, wer nicht untergehen will.

Aber nicht nur im Leben gibt es keine absolute Reinheit, auch im Kino ist sie eine Illusion, die nichts als Lügen hervorbringt. Insofern vermischt Jia Zhangke die Genres und Codes fortwährend. In einem Augenblick verzaubert Asche ist reines Weiß mit grandios choreografierten Actionszenen, die in ihrer Eleganz Erinnerungen an die Klassiker des „Heroic Bloodshed“-Kinos eines John Woo oder Tsui Hark heraufbeschwören. Im nächsten weichen Eric Gautiers stilisierte, von Neonfarben durchdrungene Kinobilder einem ungeschminkten Realismus, der den Wandel der chinesischen Städte in fast dokumentarischen Einstellungen abbildet. In dem Spannungsfeld zwischen Genrekonventionen und „Slow Cinema“-Sachlichkeit, die längst auch zu einer Konvention geworden ist, findet Jia Zhangke zu einer von allen Klischees befreiten Filmsprache.

Qiao mag ihre falschen Vorstellungen von Liebe überwinden und so zu relativer Unabhängigkeit finden, am Ende wird sie trotz allem nicht zum Subjekt der Erzählung. Die letzten Bilder des Films stammen von einer Überwachungskamera und konfrontieren einen mit der bitteren Erkenntnis, dass Freiheit und Eigenständigkeit in dem komplexen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System, dessen Chronist Jia Zhangke ist, immer eine Illusion sein werden.

Asche ist reines Weiß Jia Zhangke China, Frankreich, Japan 2018, 137 Minuten

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