Eine verlorene Generation

Griechenlandkrise 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Rekordwert der EU. Wie hat sich die seit 2010 anhaltende Wirtschaftskrise in Griechenland auf die dortige Jugend ausgewirkt? Ein Essay.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Im Januar 2015 wählte Griechenland bei vorgezogenen Parlamentsneuwahlen den
damals 40-jährigen Abgeordneten Alexis Tsipras zum neuen Ministerpräsidenten. Tsipras
von der Partei SYRIZA, übersetzt Koalition der radikalen Linken, war damals der jüngste
Regierungschef des Landes überhaupt.
Der neue Premierminister versprach nicht nur ein Ende der anhaltenden Sparpolitik
vonseiten der Europäischen Union (EU), sondern verkörperte durch sein jüngeres Alter
auch einen Wandel-vor allem für die jüngeren Menschen im Land.
Denn seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland im Jahr 2010 stiegen
die Arbeitslosenzahlen im Land dramatisch. Die Arbeitslosenquote im Allgemeinen erhöhte
sich von 12 Prozent 2010 auf 27 Prozent im Jahr 2013.
Doch eine andere Statistik veränderte die Lebensrealität besonders junger Menschen: Im
Januar 2017 lag die Jugendarbeitslosigkeit im Land bei etwa 47 Prozent.
Das ist jeder zweite junge Grieche bzw. jede zweite junge Griechin.
Der Begriff der Jugendarbeitslosigkeit schließt die Altersgruppe von 15-24 Jahren mit ein.
Dies ist auch das Thema dieser vorliegenden Untersuchung:


Wie hat sich die anhaltende Wirtschaftskrise in Griechenland auf die dortige Jugend
ausgewirkt?


Eine Chronik der Wirtschaftskrise


Zunächst einmal lohnt es sich sicherlich, einen Blick auf die politischen Maßnahmen zu
werfen, die seit 2010 im Rahmen der EU-Sparprogramme beschlossen wurden.
Griechenland erklärte sich 2010 für zahlungsunfähig, da die Staatsverschuldung um ein
Vielfaches höher lag als ursprünglich angenommen.
Da sich der Staat kein weiteres Geld mehr am Finanzmarkt leihen konnte, bat die damalige sozialdemokratische Regierung der PASOK-Partei um Hilfe bei den europäischen Mitgliedstaaten, die daraufhin ein 110-
Milliarden-Euro-Rettungspaket auf den Weg brachten (vgl. Klemm & Schultheiß 2015: S.39).
Die Rettungsgeber, weithin bekannt unter der Bezeichnung „Troika“, bestanden aus der
Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
Europäischen Zentralbank.
Diese Kredite-ausgezahlt in Tranchen-wurden allerdings an Auflagen geknüpft, die
Griechenlands Regierungen umzusetzen hatten, um an die Hilfszahlungen zu gelangen:
Darunter waren Rentenkürzungen, Senkungen im sozialen Bereich sowie
Steuererhöhungen, darunter 2016 die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 24 Prozent.
Letztere Erhöhung trifft besonders Güter des alltäglichen Lebens wie Lebensmittel und
Hygieneartikel.
Die trifft besonders Geringverdiener und Arbeitslose, wie eine Studie des DIW bereits 2011 gezeigt hat.

Als 2015 eine Linksregierung der SYRIZA-Partei an die Macht kam, versprach sie, die
Sparprogramme zu beenden und einen Schuldenschnitt mit der Europäischen Union
auszuhandeln. Zudem sollte die soziale Krise im Land- mit Steuererhöhungen und
Kürzungen im sozialen Bereich-endlich überwunden werden.
Letztendlich änderte sich aber wenig in der Praxis: SYRIZA akzeptierte unter dem Premier
Tsipras im Juli 2015 ein erneutes Sparprogramm über drei Jahre und verpflichtete sich zu
weiteren Einschnitten.
Besonders pikant: Bei einer Volksabstimmung eine Woche zuvor sprach sich die Mehrheit
der Bevölkerung gegen eine Verlängerung der Sparprogramme mit der EU aus.
Dabei stimmten besonders junge Menschen gegen ein Weiter so in der Politik. Über 70
Prozent der 15 bis 24-jährigen wollten einer Umfrage vor der Abstimmung zufolge mit Nein
stimmen-und damit gegen eine Fortsetzung der Sparprogramme.
Hier zeigte sich: die jungen Menschen in Griechenland hatten genug von dem Status Quo,
der ihr Leben bestimmte.


Auswirkungen der Krise auf Jugendliche


Im Verlauf der Wirtschaftskrise in Griechenland stieg nicht nur die Arbeitslosigkeit unter
Jugendlichen (15-24 Jahre) auf fast 50 Prozent, sondern auch die soziale Realität der
dortigen jungen Menschen veränderte sich.

Immer mehr junge Menschen leben heute zuhause bei ihren Eltern, weil sie sich schlicht
keine eigene Wohnung leisten können.
Viele von ihnen sind auf die Renten der Großeltern angewiesen, da ihre eigenen Eltern oftmals ebenfalls krisenbedingt ihren Job verloren haben.
Im Verlauf der Krise hat sich ein Terminus für diese junge verlorene Generation in
Griechenland herausgebildet: die 700-Euro-Generation.
Viele junge Menschen verdienen, wenn sie denn einen Job besitzen, höchstens 700 Euro
im Monat-trotz Vollzeitjob und oftmals Überstunden.
Entgegen der Klischees vom faulen Griechen, der den ganzen Tag Kaffee trinkend am
Meer sitzt, leisteten Griechen laut OECD-Studie von 2019 die fünftmeisten Arbeitsstunden
im internationalen Vergleich.
Viele der jungen Menschen leisten unbezahlte Überstunden, um nicht entlassen zu
werden.
Ein großes Problem des griechischen Arbeitsmarkts ist zudem, dass der
Dienstleistungssektor die meisten Jobs bietet. Darunter fallen Tätigkeiten wie
Kellner*innen, Barista oder auch Hotelangestellte. Diese Jobs sind oftmals saisonal
befristet und unterbezahlt, zudem bieten sie wenig Absicherungen.
Doch die junge Generation in Griechenland hat mit weiteren Problem zu kämpfen:
im Verlauf der Wirtschaftskrise von 2010 bis heute sind immer mehr junge Griechen ins
Ausland ausgewandert, weil sie im eigenen Land keine Perspektiven mehr gesehen
haben.
Dadurch setzte ein sogenannter „brain drain ein“, ein Prozess der Talentabwanderung, der
vor allem auf den akademischen Sektor entfällt. Gut ausgebildete Ärzte, Ingenieure,
Informatiker oder auch Naturwissenschaftler sehen keine Zukunft in ihrer Heimat mangels
wirtschaftlicher Perspektiven (vgl. Agridopoulos & Papagiannopoulos 2016: 167).
Hier ist besonders wichtig festzuhalten, dass Arbeitslosenhilfe in Griechenland nur für ein
Jahr gewährt wird, das heißt, nach Ablauf der 12 Monate steht ein Jugendlicher ohne
soziale Absicherung vom Staat vor dem finanziellen Ruin. Der Anspruch auf
Krankenversicherung geht dadurch ebenfalls verloren. Wenn keine Familie da ist, um
einzuspringen, kann das die Obdachlosigkeit für Betroffene bedeuten.
Nicht umsonst ist die Zahl an obdachlosen jungen Menschen im Land gestiegen.

Überqualifikation der Jugend


Ferner verschärft sich durch die Krise ein weiteres Problem: immer mehr Jugendliche (70
Prozent der Schulabgänger) strömen nach ihrem Schulabschluss auf die Universitäten
des Landes, was grundsätzlich natürlich kein Problem ist, da so das Qualifikationsniveau
der Bevölkerung steigt. Doch in Griechenland sorgt diese Überqualifikation dafür, dass
aufgrund mangelnder Jobs im Industriebereich keine Abnehmer für die Absolventen
vorhanden sind.
Es gibt zu viele Anwälte und Lehrer im Land, da der Staat infolge der öffentlichen
Sparmaßnahmen weniger Stellen neu besetzt.
Ein zweites Standbein wie in Deutschland mit der beruflichen Ausbildung, bei der man in 3
Jahren einen Beruf von der Pike auf lernen kann, gibt es in Griechenland nicht.
Dadurch bleibt oftmals nur das Studium als Zukunftsperspektive.
Generell ist der Mangel an produzierendem Gewerbe im Land eklatant und hindert junge
Menschen daran, einen alternativen beruflichen Weg einzuschlagen. Studium oder nichts
heißt es in Griechenland.
Gerade in diesem Bereich müsste die griechische Regierung mehr unternehmen, um den
eigenen Nachwuchs für andere Jobsparten zu begeistern.


Mentale Auswirkungen


Ein weiterer Aspekt der Wirtschafts- und Finanzkrise, der gerne unter den Teppich der
Öffentlichkeit gekehrt wird, ist die mentale Auswirkung auf Jugendliche infolge der
Perspektivlosigkeit.
2014 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Bericht mit dem
Namen „Preventing Suicide: A global imperative“, der aufzeigt, dass Selbstmord bei
Jugendlichen im Alter von 15-29 Jahren der zweithöchste Todesgrund ist.
Infolge der Wirtschaftskrise (2009-2015) stieg die Suizidrate im Land um bis zu 33
Prozent. Natürlich ist festzuhalten, dass nicht alle Suizide auf das Konto von Verarmung
oder Jobverlust gehen, aber der signifikante Anstieg im Verlauf der Krisenjahre lässt
vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen den Variablen Armut und Suizid besteht.

Besonders junge Menschen sind von der Perspektivlosigkeit getroffen.
In den letzten Jahren häuften sich zudem die Berichte, dass immer mehr junge Menschen
Drogen konsumieren-besonders das „Kokain der Armen“, Sisa, das aufgrund seines
niedrigen Preises (ein paar Euro für eine Dosis) sich besonderer Beliebtheit erfreut.
Das hohe Abhängigkeitspotenzial und der geringe Preis machen die Droge zu einem
Phänomen der Wirtschaftskrise.
Junge Menschen-besonders ohne Perspektive-sind besonders anfällig für solche
Angebote.


Aussichten für die Zukunft


Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Wirtschaftskrise seit Beginn 2010 trotz
mehrmaliger Regierungswechsel und auferlegter Rettungsprogramme nicht zu einer
deutlichen Verbesserung für die Bevölkerung im Allgemeinen bzw. der Jugendlichen im
Speziellen geführt hat.
Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt auch heute (Stand Oktober 2020) noch 35 Prozent
und die meisten der Jobs, die angeboten werden, reichen nicht, um den eigenen
Lebensunterhalt (vor allem in Großstädten wie Athen und Thessaloniki) zu bestreiten.
Oftmals sind junge Menschen gut ausgebildet und besitzen einen Universitätsabschluss,
doch dem Überangebot an jungen Menschen stehen zu wenig Jobs gegenüber.
Die Wirtschaftskrise im Land, die mittlerweile über 10 Jahre andauert, hat sich sowohl
finanziell als auch sozial auf die Jugendlichen ausgewirkt, da immer mehr von ihnen ins
Ausland auswandern müssen oder auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen sind.
Ein großes Problem ist ebenfalls die steigende Suizidrate im Land, die aber alle
Altersgruppen betrifft und kein spezifisches Problem der jungen Generation ist.
Doch Beispiele aus anderen Ländern zeigen: Wenn die Perspektivlosigkeit wächst, dann
wächst auch die Gewalt und Kriminalität, wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen. Radikalisierungsprozesse wie das Erstarken
der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte* oder der steigende Konsum von Drogen
sind dabei nur eine Facette.
Die Wirtschaftskrise in Griechenland, sie ist nicht vorbei.
Trotz steigender Wirtschaftszahlen.
Das zeigt besonders die verlorene Generation. Die Generation der 15- bis 24-jährigen.

Anmerkungen:

*Die Neonazipartei „Goldene Morgenröte“ wurde im September 2015 bei den Parlamentswahlen drittstärkste Kraft mit 7 Prozent der Stimmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden