Sorry We Missed you, Solidarity

TV-Filmtipp Das Drama „Sorry We Missed You“ des Regisseurs Loach zeigt die Verlierer im reichen Westen, über die keiner spricht. Vor allem nicht die politischen Entscheidungsträger.

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Der Brite Ken Loach ist ein alter Hase im Filmgeschäft. Geboren 1936 in den Midlands in England, führte er bereits 1966 bei einem Film Regie, der ihn auch über die eigenen Landesgrenzen hinaus bekannt machen sollte: „Cathy Come Home“ behandelt Themen wie das Abdriften in die Obdachlosigkeit, die mentalen Auswirkungen der Armut auf die Betroffenen sowie Wohnungsknappheit einer Familie im Großraum London. Diese Themen lassen sich aber genauso gut auf die heutige Zeit übertragen. Ein Blick auf das Jahr 2020 zeigt:

Etwa 14 Millionen Briten leben am Existenzminimum. Besonders pikant dabei: die Hälfte von ihnen hat einen Job, aber kann trotz der Erwerbsarbeit nicht davon leben.

So geht es auch einer Familie in dem neuesten Sozialdrama von Ken Loach aus dem Jahr 2019:

Der Familienvater Ricky Turner, mit 2 Kindern und einer Ehefrau, muss sich im Angesicht der Wirtschaftskrise 2008 selbständig machen und als Paketzusteller innerhalb eines kleinen Zeitfensters die Ware an die Haustür liefern. „Nicht mehr als 1 Stunde“, warnt ihn sein Vorgesetzter mehrmals mit erhobenem Zeigefinger an seinem ersten Arbeitstag. „Und das verfehlst du nicht, niemals.“ Was bleibt Ricky Turner anderes übrig, als die Konditionen seines Bosses zu akzeptieren.

Es ist natürlich klar, dass Turner als Subunternehmer die alleinige Verantwortung für die Pakete trägt. Auch sein Hightech Paket-Scanner, der ihm den Weg zum Kunden weist und als eine Art Smartphone der 1. Generation jeden seiner Schritte nachverfolgt, ist im Fall eines Schadens von ihm zu ersetzen. Per Lohnkürzung.

Das erschreckende an dem Streifen ist aber nicht die Tatsache, dass Turner aufgrund des enormen Zeitdrucks in Flaschen pinkeln muss (reales Beispiel: Amazon) oder dass 14-Stunden-Tage im Beruf die Norm sind, sondern dass politische Entscheidungsträger nichts gegen diese sozialen Verwerfungen unternehmen-aus Ignoranz oder Inkompetenz oder einfach purer sozialen Kälte heraus, das Motiv sei einmal dahingestellt. Es spielt nämlich letztendlich keine Rolle für die Betroffenen.

Keine Dystopie- traurige Realität

Turners Frau, Abbie, die in einem-wie wir in Deutschland sagen-systemrelevanten Beruf arbeitet, muss sich ebenfalls unter Zeitdruck von Patient zu Patient hangeln, wobei doch im Beruf des Pflegers gerade besondere Aufmerksamkeit auf die Belange des einzelnen Patienten gelegt werden muss. Kürzungen im Gesundheitswesen machen es möglich.

Dass Familienvater Turner am Ende im Krankenhaus landet (ohne zu viel zu verraten) und mehrere Stunden in der Notaufnahme auf eine Behandlung warten muss, ist leider keine fiktive Sequenz einer weit entfernten Galaxis, sondern Alltag in Großbritannien, das seit Jahrzehnten mit einer chronischen Unterfinanzierung des Nationalen Gesundheitssystems (NHS) zu kämpfen hat.

Die Corona-Pandemie legt diese Probleme offen wie unter einem Brennglas.

Der Subplot der Filmhandlung beschäftigt sich mit den Auswirkungen dieser Überarbeitung auf die einzelnen Familienteile: die Eltern selbst, aber vor allem die Kinder, die gerade im jungen Alter den Alltag eigenverantwortlich gestalten müssen (sollen), aber allzu oft schlicht und ergreifend damit überfordert sind.

Anstatt einem vollwertigen Mittagessen kommen dann eben Frühstücksflocken auf den Tisch. Anstatt in die Schule geht es dann zum Graffiti-Sprayen mit Freunden. Das ist keinesfalls eine Verurteilung der Kinder selbst, die sich inmitten ihrer Entwicklungsphase befinden, sondern in erster Linie ein Totalversagen der Regierenden. Seien es Institutionen auf lokaler oder auch staatlicher Ebene.

Als im vergangenen Jahr die Tory-Regierung des Premierministers Boris Johnson inmitten von Corona die Zuwendungen für kostenlose Mittagessen in den Schulferien streichen wollte, sorgte erst eine Petition des bekannten Fußballnationalspielers Marcus Rashford (mittlerweile über 1 Million Unterschriften: Stand 14.01.21) für ein Umlenken bei der Regierung. Ein Armutszeugnis.

Die Familie Turner ist natürlich „nur“ ein Beispiel. Und der Film ist sicherlich eine Überspitzung so mancher Alltagssituation, aber im Kern ist die Botschaft eindeutig: das Auseinanderdriften von westlichen Industriegesellschaften ist keine Dystopie der Zukunft, sondern bereits traurige Realität für viele Menschen. Die Klasse der „working poor“, also der Menschen, die trotz Arbeit in Armut leben, wächst stetig-sowohl in Großbritannien, als auch hier in Deutschland. Und das vor Corona.

Hier gilt es endlich geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Wie sehen Lösungsvorschläge aus?

Doch dazu müsste endlich Bewegung in die politischen Entscheidungsträger kommen.

Die Tory-Regierung, seit 2010 ununterbrochen an der Macht, hat durch ihre Austeritätspolitik nicht nur Kürzungen im Gesundheitssektor, sondern auch Bildungsbereich vorgenommen. Ein Beispiel ist die dadurch resultierende Erhöhung der Studiengebühren (maßgeblich vorangetrieben von den Liberal Democrats), die zu einem Anstieg an Kreditschulden von jungen Studierenden geführt hat. Dadurch wird eine Ungleichheit weiter bedingt.

Im Film drückt sich dies in einer Szene aus, in der Seb, der Sohn des Familienvaters, apathisch darlegt, wieso er nicht studieren möchte: „Damit es mir nachher so geht wie dem Bruder meines Kumpels. Der hat jetzt 57.000 Pfund Schulden.“ 57.000, eine stolze Zahl für einen Berufseinsteiger.

Das Versprechen des sozialen Aufstiegs, mit dem Ricky seinen Sohn zu mehr Leistung in der Schule antreiben möchte, erweist sich für viele junge Menschen immer mehr als Farce, als Karotte vor der Nase, mit der die Wettbewerbsfähigkeit und das System des homo oeconomicus auf Kosten der Individuen um jeden Preis am Laufen gehalten werden soll.

Lösungen gibt es zahlreich, doch sie erfordern ein Umdenken in den politischen Institutionen und ihren Entscheidungsträgern.

Da wären zum Beispiel die Aufhebung der Studiengebühren, wie übrigens auch bei uns in Deutschland geschehen. Das würde besonders Familien und Kindern aus sozial Schwachen Familien zugute kommen, ohne sich für einen Hochschulabschluss hochverschulden zu müssen.

Zum anderen ist es dringend notwendig, dass endlich die Kürzungen im Gesundheitssektor (wie die Kapitalfinanzierung von Krankenhäusern) zurückgenommen werden und das Personal dort nicht nur aufgestockt, sondern auch besser bezahlt wird.

Auf dem Arbeitsmarkt ist dringend eine Erhöhung des Mindestlohns (National Living Wage) notwendig, die besonders Geringverdienern wie Ricky Turner und seiner Frau als Beispiel zugute kommen würde.

Sie können sich nämlich dadurch auch eine neue Winterjacke (Anspielung auf den Film), einen neuen Schulranzen für die Tochter Liza Jane oder einen Urlaub leisten, was wiederum der Realwirtschaft zugute kommt.

Die derzeitige Höhe von 8,72 Pfund (Stand 2020), umgerechnet etwa 9,63 Euro, reicht in der Regel nicht einmal für eine Einzimmer-Wohnung. Besonders nicht im Großraum London. Steigende Lebenshaltungskosten tun dabei ihr Übriges. Sie treffen überproportional Ärmere, wie das Office for National Statistics 2019 aufzeigte.

Ende der Prekarisierung

Wichtiger als alles andere ist jedoch, dass endlich die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse-gerade bei Großkonzernen-, die immer mehr auf Subunternehmen und Einschüchterung setzen, endlich beendet wird. Das Gesetz zur Nachunternehmerhaftung, das 2019 in Deutschland beschlossen wurde, ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung. Denn dadurch werden Paketdienste endlich in die Verantwortung genommen, soziale Abgaben „säumiger Subunternehmer“ korrekt abzuführen.

Wenn die Lebensleistung von Menschen, die im Grunde nichts anderes wollen, als ihre Familien zu ernähren und ein anständiges Leben in Würde zu führen, weiter so vernachlässigt wird, zeigt das den wahren Charakter unserer fortschrittlichen westlichen Werte, derer wir uns immer rühren.

Konzerne wie Amazon oder Apple, die in Europa keine oder nur niedrigste Steuersätze bezahlen, können sich nicht länger aus der Verantwortung für die Allgemeinheit stehlen, während Kleinunternehmer wie Ricky Turner und Co. selbst kleinste Schäden an ihren Lieferwagen auf eigene Rechnung ersetzen müssen.

Großbritannien hat im 17. Jahrhundert die absolutistische Monarchie überwunden und die feudalen Strukturen der Gesellschaft Schritt für Schritt aufgelöst. Auf dem Papier. Jetzt müssen die gesellschaftlichen Ungleichheiten endlich auch in der Realität angegangen werden.

Eine kleine Orientierung dazu gibt dieses Zitat: „Die moralische Verantwortung einer Regierung zeigt sich darin, (…) wie sie mit den Ärmsten unter uns umgeht.“

Dieser Satz stammt nicht von einem Sozialisten oder Kommunisten, sondern von Hubert Horatio Humphrey, dem ehemaligen Vizepräsidenten (1965-1969) der USA. Wahrlich kein Anhänger einer Überwindung des Kapitalismus.

Ken Loach Filmliste: http://www.filmstarts.de/personen/6440/filmo/top/

„Sorry We Missed You“ zum Streamen: https://www.werstreamt.es/film/details/1746332/sorry-we-missed-you/

Empfehlung des Autors:

Die Cardiff University hat im Mai 2017 einen ausführlichen Bericht zum Thema „working poor“ in Großbritannien vorgelegt. Darin sind auch aktuelle Zahlen zum Anstieg der Erwerbsarmut sowie konkrete politische Lösungsvorschläge-wie die Anhebung des Mindestlohns für untere Lohngruppen- enthalten. Hier zum Nachlesen: https://www.cardiff.ac.uk/__data/assets/pdf_file/0009/758169/Hick-and-Lanau-In-work-poverty-in-the-UK.pdf

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